Sand & Blut
aufbewahrt wurde und setzte mich vor den Papierberg.
Lange starrte ich das Chaos an. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Zwei Jahre das Zeug sortieren? Dann konnte ich mir offiziell den Sticker »Bib-Gespenst« anhängen. Und würde Tanja mich da wirklich unterstützen? Es war zum Heulen. Missmutig starrte ich vor mich hin. Ich bemerkte die alte Frau gar nicht, die sich mir näherte.
»Na, wissen Sie nicht, wo Sie anfangen sollen?« Ich schaute auf und sah in das faltige Gesicht einer weißhaarigen Frau. Die Chefarchivarin. Man sah sie nur sehr selten und sie hatte immer eine geheimnisvolle, unnahbare Aura um sich. Doch jetzt schaute sie gütig zu mir herab. Sie war uralt und ich nahm an, dass sie kurz vor der Pension stand. Ihre Nachfolgerin stand schon in den Startlöchern. Eine verkniffene Vierzigjährige, die mich immer misstrauisch beobachtete, wenn ich mich über den Berg beugte.
Ich nickte und sah zu ihr hoch wie ein Schluck Wasser.
»Ist ein Haufen Arbeit.«
Sie sah über die Unterlagen und seufzte.
»Ja, das hat Herrmann Hippel auch immer gesagt!«
Ich horchte auf.
»Kannten Sie ihn?«, fragte ich.
Sie nickte nachdenklich.
»Ja, er war oft hier. Bis zu seinem Tod hat er die Dokumente immer wieder sortiert und auch über sie geschrieben.«
Ich horchte erneut auf.
»Aber warum herrscht dann hier immer noch so ein Chaos?«
»Er hat es auch nicht ganz in den Griff bekommen, aber er war schon ziemlich weit!«
Ich schaute wieder zur ihr hoch. Dass auch Herrmann Hippel an seinem Chaos verzweifelt war, war mir zumindest ein schwacher Trost und ich hatte ja theoretisch noch die Chance auf eine Doktorarbeit.
»Kommen Sie, vielleicht habe ich etwas für Sie!«
Sie verschwand mit mir in den tiefen Katakomben der Bibliothek und irgendwann blieben wir vor einem alten Holzschrank stehen. Sie öffnete die knirschende Tür und zog eine abgewetzte braune Ledermappe hervor. Sie öffnete sie vorsichtig und heraus rutschten gut hundert sorgfältig getippte Blätter. Das Papier war schon vergilbt und sah brüchig aus.
»Er hat sich, nachdem man ihm die Ehrendoktorwürde verwehrte, an einer eigenen Doktorarbeit versucht. Vielleicht finden Sie da ja etwas Inspiration drin«, sagte sie und legte den Stapel auf einen kleinen Tisch vor uns. Eine Staubwolke stieg zu uns auf und ich fühlte mich, als würde ich einen alten Teppich schütteln. Die Archivarin hustete, lächelte mir dann aber aufmunternd zu.
Ich griff in die Blätter und überflog sie. Herrmann Hippel hatte tatsächlich wissenschaftlich geforscht. Das, was er da zusammen getragen hatte, sah wie der noch dünne, aber durchaus tragfähige Torso für eine Doktorarbeit aus.
»Kann ich mir die mal ausleihen?«, fragte ich.
Die alte Archivarin nickte.
»Nehmen Sie sie ruhig mit. Würde ihn sicher freuen, wenn wenigstens einer sie liest! Er war eigentlich sehr nett. Das darf man gar nicht sagen, weil ja dann die Sache mit der Partei rauskam, aber wenn Sie mich fragen, war er wohl ein Gentleman alter Schule.« Sie klopfte mir auf die Schulter und trottete langsam in den dunklen Gang davon.
Ich dachte nicht weiter über Herrmann Hippel und die Archivarin nach, sondern verstaute die Papiere in meinem Rucksack und nahm sie mit nach Hause. Tanja war für zwei Wochen zu ihrer Mutter gefahren, um sich vom Stress ihrer Doktorarbeit zu erholen. Ich setzte mich in meinen Sessel und las neugierig die Seiten, die Hippel verfasst hatte.
Ich las das Ding den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht. Erst am frühen Morgen machte ich eine Pause. Ich meldete mich krank, machte mir einen Kaffee und las weiter. Hippel hatte sich in ein Thema vertieft, das zu meiner Arbeit passte wie die Faust aufs Auge. Er hatte Grimmelshausen genau so verstanden wie ich. Es war faszinierend und erschreckend zugleich, zu sehen, wie jemand alle meine Gedanken schon vor dreißig Jahren formuliert hatte.
Seine ganze Arbeit war ein reicher Schatz und ich musste zugeben, dass er in dem Wust seiner Dokumente genau die richtigen gefunden hatte, um seine und meine Thesen zu belegen. Er hatte ganze Arbeit geleistet. Ich blieb die Woche über zuhause und studierte die Unterlagen genau. Je mehr ich mich damit beschäftigte, umso frustrierter wurde ich.
Das war keine Inspiration, das war meine Doktorarbeit. Wenn ich etwas davon verwenden wollte, würde mir das mit Sicherheit Plagiatsvorwürfe einbringen. Außerdem, wie sah das denn aus? Ich stützte mich auf eine nicht fertig gestellte Doktorarbeit
Weitere Kostenlose Bücher