Sanft berührt – und schon verführt?
zum Haus begegneten sie Victor Wolff, der vornübergebeugt ging und erschöpft zu sein schien. Im Internet hatte Olivia herausgefunden, dass er etwa fünfzehn Jahre älter war als seine zu früh verstorbene Frau, also knapp siebzig. Er blieb stehen und starrte Cammie lange an, bevor er Olivia von der Seite her ansah. „Das Kind hat sehr ungewöhnliche, schöne Augen.“
Der forschende Blick gefiel ihr gar nicht. Doch sie ließ sich nichts anmerken. „Ja, sie wird vielleicht mal eine Schönheit wie meine Mutter.“
„Wahrscheinlich werde ich meine Enkelkinder nicht mehr erleben.“ Victor ließ Cammie, die sich ein paar Meter entfernt ins Gras gehockt hatte und Blumen pflückte, nicht aus den Augen. „Gareth ist der Einzige meiner Söhne, der schon verheiratet ist, aber er und Gracie wollen mit Kindern noch warten.“
„Geht es Ihnen nicht gut?“
„Mein Herz ist nicht gesund. Wenn ich mich vernünftig ernähre und meine Übungen mache, kann ich noch einige Zeit leben. Das meint zumindest mein Sohn, der Arzt ist.“
„Aber Sie glauben ihm nicht?“
„Keiner von uns weiß, wie viel Zeit ihm noch vergönnt ist.“
„Es tut mir leid, dass Sie Ihre Frau so früh verlieren mussten, Mr Wolff.“
Er seufzte leise. „An dem Morgen hatten wir uns gestritten, bevor sie zum Einkaufen fuhr. Sie wollte, dass die Jungs Klavierstunden nähmen, und ich meinte, das sei nur was für kleine Mädchen. Das habe ich wohl etwas zu deutlich gesagt.“
„Und an dem Tag musste sie sterben.“
„Ja.“ Er ließ den Kopf sinken. „Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht, Olivia.“
„Das tun wir doch alle, Sir.“
„Vielleicht. Aber ich habe auch beinahe das Leben meiner Söhne zerstört, indem ich sie wie Gefangene hielt. Mein Bruder Vincent war genauso. Zusammen hatten wir sechs Kinder, die hilflos und auf uns angewiesen waren. Wir wussten einfach nicht, was wir machen sollten.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Fast gegen ihren Willen tat er ihr leid.
Doch plötzlich hob er den Kopf und nahm entschlossen die Schultern zurück. „Aber Kieran ist ein guter Junge“, sagte er mit Nachdruck. „Es ist nicht seine Schuld, dass er wegen all der traurigen Erinnerungen so selten hierher kommt.“
„Wir haben alle mit unseren Schwierigkeiten zu kämpfen, woher sie auch immer kommen mögen. Aber unsere Kinder sollten darunter nicht leiden.“
Er sah sie direkt an. „Beziehen Sie das jetzt auf mich oder auf sich?“, fragte er lauernd.
Seine Direktheit traf sie unvorbereitet. „Wahrscheinlich auf uns beide“, sagte sie zögernd. „Aber über eins sollten Sie sich im Klaren sein, Mr Wolff. Ich werde alles tun, um meine Tochter zu schützen.“
Er lachte leise. „Ich mag Sie, Olivia. Zu schade, dass ich nur Söhne und keine Tochter habe.“
Was sollte sie dazu sagen? Schweigend gingen die drei zurück zum Haus.
Kieran stand oben am Fenster und beobachtete die drei, als sie auf das Haus zukamen. Irgendwie passte es ihm nicht, dass sein Vater Zeit mit Olivia und Cammie verbrachte. Schließlich war es genau das, was er eigentlich an diesem Wochenende selbst hatte tun wollen. Aber der Zorn darüber, dass Olivia ihm das Kind und dem Kind den Vater so lange vorenthalten hatte, kochte immer noch in ihm, und er hatte Angst, vor Cammie die Beherrschung zu verlieren. Dennoch, irgendwann musste Klartext geredet werden! Und das würde nicht angenehm für Olivia werden.
Beim abendlichen Dinner herrschte eine angespannte Atmosphäre. Da Jacob zu einem Patienten gerufen worden war und das jung verheiratete Paar Gareth und Gracie seine Zweisamkeit genießen wollte, hatten sich nur Victor, Kieran, Olivia und Cammie am Abendbrottisch versammelt. Cammie benahm sich vorbildlich, unterhielt sich mit Kieran und lächelte scheu, wenn Victor Wolff sie ansprach. Olivia war blass und sagte kaum ein Wort.
Wahrscheinlich ahnt sie, was auf sie zukommt, dachte Kieran.
Als der Nachtisch serviert und gegessen worden war, erhob Victor sich. „Entschuldigt einen alten Mann. Ich gehe jetzt nach oben und werde es mir vor dem Feuer gemütlich machen.“
Cammie sah ihm hinterher und krauste die kleine Nase. „Wieso vor dem Feuer? Es ist doch Sommer.“
„Da hast du recht, meine Kleine“, antwortete Kieran lächelnd. Es war erstaunlich, wie scharf das Kind beobachtete. „Aber mein Vater ist ein bisschen exzentrisch.“
Als Cammie ihn fragend ansah, mischte Olivia sich ein. „Das bedeutet, dass er manchmal etwas merkwürdige Dinge
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