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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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wäre ein Erlebnis besonderer Art.
Es bleiben noch etwa zwei Stunden Marsch bis Sauveterre, zuerst aus der Senke von Salies heraus und dann durch eine gefurchte Berglandschaft, ganz ähnlich derjenigen des Emmentals. Auf der grossen Straße wäre es problemlos zu machen, aber auf dem Asphalt ist das nicht attraktiv. Wir ziehen den Umweg durch ein einsames Wiesental vor, der auf der anderen Seite durch heckengesäumte Weiden zurück auf die Höhe führt. Dann geht es bequem abwärts unserem Ziel zu.
Wir entdecken Sauveterre als Bastide an einer Felsenkante, hoch über einem weiteren Pyrenäenfluß, dem Gave d’Oloron. Das Städtchen besteht eigentlich nur aus einer Gasse, die parallel zum Felsabbruch verläuft, und einer Strasse, welche auf dem alten Stadtgraben angelegt ist. In der Mitte der Stadt liegen die Ruinen einer mittelalterlichen Burg und daneben ein Schlößchen aus dem 18. Jahrhundert. Heute ist es eines der beiden Hotels des Städtchens; es heißt, mit etwas größerem Recht als das »Grand Hotel« von Eauze, »Hôtel du Château«. Da beziehen wir unser Quartier.
Das Haus hat Stil, aber es ist ziemlich heruntergekommen. Man steigt durch eine ausgetretene, aber herrschaftliche Treppe zu den Zimmern auf, riesige, eichengetäfelte Salons. Unter dem dünnen Spannteppich zeichnen sich die alten Bodenbretter ab.
Aber welche Aussicht! Das Wetter ist zwar immer noch verhängt und dunstig, aber gegen den Abend öffnet sich der Blick: wir erkennen in der Ferne zum ersten Mal die Pyrenäen. Es ist zwar erst eine Silhouette, und wir können ihre Formen noch nicht genau ausmachen, brauchen ja auch noch drei Tage bis an ihren Fuß. Doch es stärkt unsere Moral, diese markante Grenzlinie auf unserem Weg nun endlich vor uns zu sehen.
Von der Terrasse blicken wir über den 100 Meter hohen Felsabbruch auf den Fluß und seinen Auenwald hinunter. Ein alter Weg führt steil zu einer Brücke hinab. Ein großer gemauerter Bogen überspannt den halben Fluß bis zu einem Felsen im Wasser. Er trägt noch einen Brückenturm, wie wir ihn in Orthez gesehen haben, aber dann bricht das Bauwerk ab. Es hat den Hochwassern des Gave d’Oloron nicht standgehalten.
     

Sonntagmorgen in Sauveterre
 
Am folgenden Sonntagmorgen besuchen wir den evangelischen Gottesdienst in Sauveterre. Wir meinen, dies füge etwas zur Erfahrung unserer Pilgerfahrt hinzu. Denn wenn man es recht bedenkt, so waren die Nachfahren der mittelalterlichen Pilger Protestanten ebensosehr wie Katholiken. Wäre es daher nicht richtig, nach der Versenkung in die Welt des Mittelalters den Blick über dieses hinaus auf die beiden Kirchen zu wenden, die aus der einen hervorgegangen sind? Luther ist ein Augustinermönch gewesen, Zwingli Leutpriester am Kloster Einsiedeln, einer Hauptstation am nördlichen Jakobsweg, und Kalvins Vater hat das Kirchengut des Domkapitels von Noyon, am Weg von Köln und Aachen nach Paris, verwaltet.
Der »Temple protestant« liegt ein wenig außerhalb der alten Stadt, und wir finden ihn nicht sogleich, denn zwischen neun und zehn Uhr an einem Sonntagmorgen ist es im Städtchen noch sehr ruhig. Der Gottesdienst hat schon begonnen, wie wir in eine der hinteren Bänke der kleinen Kirche schleichen. Eine Gemeinde von etwa zwanzig Menschen singt das Eingangslied, begleitet von einem Harmonium. Eine Dame steckt uns diskret ein Gesangsbuch zu. Die Melodie kennen wir gut, der Text ist für uns ganz neu. Der Pfarrer ist ein hoch gewachsener, alter Herr. Er predigt über eine Stelle im Jakobsbrief. Seine Gedanken verraten selbständiges Denken. Sie haben Niveau, intellektuell und in ihrem moralischen Anspruch. Aber es schwingen darin auch Untertöne der Resignation mit. Oder ist es nur die unvoreingenommene Sicht der »condition humaine«?
Der Kirchenraum ist makellos sauber, nüchtern, rechtwinklig. So stelle ich mir auch die Stuben der Menschen vor, die hier versammelt sind. Nach der Predigt bleibt man vor der Kirche noch ein wenig stehen. Ein junger Mann im dunklen Anzug wendet sich uns freundlich und interessiert zu und fragt nach unserem Herkommen. Wir erzählen von unserem Unternehmen, merken aber, daß ihm die Idee der Pilgerschaft fremd ist. Er verbindet sie mit einem Katholizismus, gegen den sich die kleine Gemeinde seit Jahrhunderten verteidigt. Ich kann das nachvollziehen, auch wenn ich die Haltung nicht teile.
Wir erkundigen uns nach dem Leben der Gemeinde. Sie funktioniert äußerlich noch tadellos. Aber es fehlen die Kinder und die jungen

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