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Sara

Sara

Titel: Sara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hochgestreckt. Die Finger krümmen sich zur Faust. Öffnen sich. Krümmen sich zur Faust. Öffnen sich. Die Zuckungen des Jungen werden schwächer, die strampelnden Füße langsamer, die Augen, die in Harrys Augen aufschauen, bekommen einen seltsam verträumten Ausdruck, und immer noch ragt der braune Arm senkrecht hoch, immer noch öffnet und schließt sich die Hand, öffnet und schließt sie sich. Draper Finney steht weinend am Ufer und ist überzeugt, daß jetzt jemand kommen wird, jetzt wird jemand die schreckliche Tat sehen, die sie begangen haben - die schreckliche Tat, die sie immer noch begehen. Seid gewiß, daß eure Sünden euch heimsuchen werden , heißt es in dem Guten Buch. Seid gewiß. Er macht den Mund auf, um Harry zu sagen, daß er aufhören soll, vielleicht ist es noch nicht zu spät, es zurückzunehmen, ihn auftauchen zu lassen, ihn am Leben zu lassen, aber er bringt keinen Laut heraus. Hinter ihm haucht Sara ihren letzten Atemzug aus. Vor ihm öffnet und schließt ihr sterbender Sohn die Hand, öffnet sie und schließt sie, ihr Spiegelbild schimmert auf dem Wasser, und Draper denkt: Hört sie nicht auf damit, hört sie denn niemals auf damit? Und als wäre
es ein Gebet gewesen, das nun jemand erhört, knickt der durchgedrückte Ellbogen des Jungen ein, sackt sein Arm nach unten; die Finger schließen sich noch einmal zur Faust und halten inne. Einen Moment schwankt die Hand, und dann schlug ich mir mit dem Handballen mitten auf die Stirn, um diese Phantome zu vertreiben. Hinter mir ertönte ein wildes Schnappen und Krachen nasser Büsche, während Jo und das, was immer sie zurückhielt, ihren Kampf fortsetzten. Ich streckte die Hände in den Riß der Segeltuchplane wie ein Chirurg, der eine Wunde spreizt. Ich zog. Ein leises Ratschen ertönte, als der Stoff gänzlich aufriß, von einem Ende zum anderen.
    Im Inneren sah ich, was von ihnen übriggeblieben war - zwei gelbliche Schädel, Stirn an Stirn wie in einem intimen Gespräch, der verblaßte rote Ledergürtel einer Frau, verschimmelte Kleidungsstücke … und ein Haufen Knochen. Zwei Brustkörbe, ein kleiner und ein großer. Zwei Beinpaare, eines kurz, eines lang. Die irdischen Überreste von Sara und Kito Tidwell, die seit fast hundert Jahren hier am See begraben lagen.
    Der größere der beiden Schädel drehte sich um. Er starrte mich mit seinen leeren Augenhöhlen an. Seine Zähne klapperten, als wollte er mich beißen, dann fingen die Knochen darunter mühsam zappelnd an, sich zu bewegen. Einige brachen auf der Stelle auseinander; alle waren weich und brüchig. Der rote Gürtel regte sich rastlos, die rostige Schnalle erhob sich wie der Kopf einer Schlange.
    » Mike! « schrie Jo. » Schnell, schnell! «
    Ich zog den Sack aus der Tragetasche und griff nach der Plastikflasche, die darin war. Ausgelaugt in Frieden ruhen, hatten die Magnabet-Buchstaben gesagt; noch ein kleines Wortspiel. Eine weitere kleine Botschaft, die hinter dem Rücken der ahnungslosen Wächterin durchgeschmuggelt worden war. Sara Tidwell war ein furchteinflößendes Geschöpf, aber sie hatte Jo unterschätzt … und sie hatte auch die telepathische Kraft einer lang andauernden Verbindung unterschätzt. Ich war ins Slips’n Greens gegangen, ich hatte eine Flasche Ätzlauge gekauft, und nun machte ich sie auf und goß die rauchende Flüssigkeit über die Knochen Saras und ihres Sohnes.
Ein Zischen ertönte, wie man es hört, wenn man ein Bier oder eine Limoflasche aufmacht. Die Gürtelschnalle schmolz. Die Knochen wurden weiß und zerfielen, als wären sie aus Zucker - ich sah wie in einem Alptraum das Bild mexikanischer Kinder vor mir, die am Totensonntag Zuckerleichen an langen Stielen aßen. Die Augenhöhlen von Saras Schädel wurden größer, als die Lauge die dunkle Höhlung füllte, wo einst ihr Verstand, ihr außerordentliches Talent und ihre lachende Seele gewohnt hatten. es war ein Ausdruck, der zuerst wie Überraschung, dann wie Traurigkeit aussah.
    Der Kiefer fiel herab; die Zahnstummel verschwanden zischelnd.
    Die Schädeldecke brach ein.
    Gespreizte Fingerknochen zuckten und schmolzen.
    »Ohhhhhh …«
    Ein Flüstern ging durch die tropfnassen Bäume wie anschwellender Wind … aber der Wind hatte aufgehört, die nasse Luft hielt vor dem nächsten Angriff den Atem an. Es war ein Laut von unaussprechlicher Traurigkeit, Sehnsucht und Unterwerfung. Ich spürte keinen Haß darin; ihr Haß war dahin, von der ätzenden Flüssigkeit weggebrannt, die ich in Helen

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