Sarah Maclean
Gehsteig gleiten und deutete mit dem Zeigefinger
ins schwach erleuchtete Innere. Dann sagte er in einem Ton, der
keine Widerrede duldete: „Hinein mit Ihnen."
Sie nahm die Hand, die er ihr darbot, kletterte in die Kutsche
und setzte sich. Ein paar Locken fielen ihr ins Gesicht, und sie
hob die Hand, um zu überprüfen, ob ihr Spitzenhäubchen noch
ordentlich saß, nur um zu entdecken, dass sie es verloren hat-
te. „Warten Sie!", rief sie Ralston zu, der gerade zu ihr in die
Kutsche steigen wollte. Er hielt inne, sah sie fragend an. „Mein
Häubchen. Es ist weg."
Bei diesen Worten kletterte er in den Wagen, setzte sich neben
sie und nickte dem Lakaien zu, den Schlag zu schließen. Scho-
ckiert sah sie zu, wie er Handschuhe und Hut ablegte, sie auf
den Sitz gegenüber warf und dann an das Kutschendach klopf-
te, um dem Kutscher die Abfahrt zu signalisieren.
„Haben Sie mich nicht gehört?", fragte sie.
„Doch."
„Mein Häubchen ...", begann sie.
„Ich habe Sie gehört", wiederholte er.
„Aber Sie haben nicht..."
„Nein."
„Warum nicht?"
„Dass Sie dieses Häubchen verloren haben, ist kein Verlust.
Sie sollten dankbar sein, weil Sie es los sind. Sie sind zu jung,
um so scheußliche Sachen zu tragen."
„Mir hat es gefallen!", erklärte sie empört.
„Von wegen!"
Sie wandte das Gesicht ab und sah aus dem Fenster auf die
vorbeiziehende Straße. Natürlich hatte er recht. Sie hasste
Spitzenhäubchen und alles, wofür sie standen. Hatte sie eins
der schrecklichen Dinger nicht verbrannt? Unwillkürlich lä-
chelte sie. Na gut. Sie war froh, dass sie es los war.
Nicht dass sie das Ralston gegenüber zugeben würde.
„Danke", sagte sie ruhig, und das Wort hallte in der stillen
Kutsche wider. Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Dass
Sie mich gerettet haben."
Ralston knurrte unverbindlich. Offenbar hatte ihn ihr Verhal-
ten verärgert. Na gut.
Nach einigen Minuten des Schweigens unternahm Callie ei-
nen neuen Versuch, das Eis zu brechen. „Ich freue mich schon
auf Julianas Debüt, Mylord. Ich hoffe sehr, dass es ihr gelingt,
eine Liebesheirat zu schließen."
„Ich hoffe, sie schließt nichts dergleichen."
Überrascht starrte sie ihn an. „Wie bitte?"
„Die Liebe tut unserer Familie nicht gut. Ich wünsche sie kei-
nem von uns."
„Das können Sie doch nicht ernsthaft glauben."
Er erwiderte nüchtern: „Warum nicht? Meine Mutter hat in
ganz Europa gebrochene Herzen hinterlassen, hat zwei Ehe-
männer betrogen und drei Kinder verlassen - und sie angeb-
lich alle geliebt. Und Sie meinen, eine Liebesheirat sollte der
Maßstab sein, mit dem ich den Erfolg meiner Schwester im Le-
ben messe? Nein. Ich messe Julianas Erfolg daran, ob sie einen
Mann von Charakter und freundlicher Wesensart heiratet - Ei-
genschaften, die weitaus wichtiger sind als die Liebe."
Zu jedem anderen Zeitpunkt, an jedem anderen Ort hätte
Callie es an diesem Punkt wohl damit bewenden lassen. Lag
es nun am Whisky oder am Abenteuer überhaupt, jedenfalls
wandte sie sich zu ihm und sagte: „Mylord ... wollen Sie damit
etwa sagen, dass Sie nicht an die Liebe glauben?"
„Die Liebe ist nichts anderes als eine faule Ausrede, etwas zu
tun, ohne die Konsequenzen zu bedenken", meinte er gleich-
gültig. „Ich habe noch nie erlebt, dass die Liebe etwas anderes
wäre als ein Vorbote von Kummer und Schmerz. Und als Leit-
bild schadet sie mehr, als sie nützt."
„Da bin ich entschieden anderer Ansicht."
„Ich habe mit nichts anderem gerechnet", erwiderte er un-
verblümt. „Lassen Sie mich raten: Sie glauben, dass die Liebe
in all ihrer dichterischer Herrlichkeit existiert, so wie sie von
Shakespeare und Marlowe oder diesem elenden Lord Byron
und was weiß ich von wem noch besungen wurde."
„Sie brauchen das nicht so verächtlich zu betonen."
„Verzeihen Sie mir." Er bedeutete ihr mit einer Geste, sie
möge fortfahren. „Bitte sprechen Sie weiter. Erzählen Sie mir
von der wahren Liebe."
Sofort wurde sie nervös. Egal wie theoretisch man darü-
ber sprechen konnte, die Einstellung zur Liebe war doch eine
recht ... nun, persönliche Angelegenheit. Sie bemühte sich um
einen gelehrten Tonfall. „Ich würde nicht so weit gehen zu sa-
gen, dass die Liebe so vollkommen ist, wie es uns die Dichter
immer glauben machen wollen, aber ich glaube an Liebesehen.
Muss ich auch, ich bin das Ergebnis einer Liebesheirat. Und
wenn das nicht Beweis genug ist, so finde ich,
Weitere Kostenlose Bücher