Sasori, S: Schlangenfluch: Samuels Versuchung
Nessi, Mhorag, das waren Überbleibsel aus prähistorischen Zeiten. Dr. Johannson hatte wirr gelacht und ihr ein mieses Foto gezeigt, auf dem ein Mann in einem ausgefransten Taucheranzug herumlag. Was anderes konnte das unmöglich sein. Mhorag hätte nichts mit einem Dinosaurier gemeinsam. Mhorag sei weder übermäßig groß, noch langhalsig, aber zweifellos ein Wasserwesen. Woher wollte der alte Knilch das wissen? Erst 1971 war Mhorag zum letzten Mal gesehen und fotografiert worden, wenn das Foto auch scheiße war, es zeigte Höcker, einen langen, schmalen Kopf und einen langen Hals. Basta! Vielleicht sei Mhorag menschlicher als sie alle, hatte Johannson mit geheimnisvollem Lächeln gemeint. Seeschlangen waren nicht menschlich. Dinosaurier auch nicht, aber Johannson am allerwenigsten. Er sah aus wie ein Golem, dem der Lehm faulig geworden war.
Vivienne setzte sich in eine bequemere Lage und überschaute mit dem Nachtsichtgerät das Westufer. Durch den Restlichtverstärker wurde alles in schauriges Grün getaucht. Der See lag ruhig vor ihr. Hin und wieder huschte etwas Kleines, Flatterndes knapp über die Wasseroberfläche. Ein Fuchs schlich durchs Gras, tappte ans sandige Ufer. Sie wollte keine Füchse. Sie wollte Ungeheuer, vorzugsweise mit langen Hälsen und Höckern, weil sie sich dann besser in eine prähistorische Spezies einordnen ließen und sich Johannson endlich geschlagen geben musste. Plötzlich hob der Fuchs den Kopf, witterte und huschte davon. Da kam jemand den gewundenen Weg von diesem alten Gemäuer herunterspaziert. Mitten in der Nacht. Der Mann sah sich um und wandte sein Gesicht dem Mond zu. Vivienne zoomte ran. Auch wenn alles an ihm dank des Nachtsichtgerätes grün war, er war ein hübsches Exemplar seiner Art. Kannst du nicht schlafen? Ich auch nicht. Aber ich habe einen Grund, und der ist alt und schimpft sich Wissenschaftler. Offenbar hatte der Mann auch einen Grund, dem Bett fern zu bleiben. Er zog sich aus. Vivienne zoomte noch einmal.
„Dreh dich zu mir, mein Hübscher.“ Sie biss sich auf die Lippe. So ein geiler Arsch! Wetten, der sah von vorn noch besser aus? Sah er. Vivienne fiel das Fernglas aus der Hand. Mist, verdammter! Er sah sich um, sie erstarrte zu Etwas, das schwieg und nicht atmete. War er ein Nachtschwimmer? Oder ein Konkurrent? Aber er hatte keine Tauchausrüstung dabei, als er endlich ins Wasser watete. Was lag da für ein dunkler Schatten auf seiner linken Seite? Da war kein Baum, kein Fels, nichts, was den Schatten im Mondlicht hätte werfen können. Lautlos glitt er ins Wasser und tauchte sofort unter. Vivienne sah auf die Uhr. Eine Minute, zwei, fünf. Nirgends tauchte sein Kopf wieder auf. Ein Selbstmörder mit massiver Disziplin? Wo blieb der Kerl? Sie hatte keine Lust, Zeugin eines persönlichen Dramas zu werden. In ihrem eigenen Leben gab es genug. Der Mann blieb weg. Das konnte nicht sein. Sie packte die Infrarotkamera, schlich sich näher ans Ufer und stoppte die Zeit. Acht Minuten. Kein Mensch konnte so lange ohne Luft unter Wasser bleiben. Zehn Minuten. Würde es noch Sinn machen, wenn sie Hilfe holte? Sie selbst würde unter keinen Umständen in dieser Kälte nach einem Fremden tauchen. Fünfzehn Minuten. Der Kerl war ersoffen, wie eine Ratte. Krasse Art, sich aus dem Leben zu stehlen, untertauchen und nicht mehr nach oben zu schwimmen. Sie zitterte vor Kälte und Anspannung, aber fortgehen konnte sie nicht. Ab wann trieb eine Wasserleiche an die Oberfläche? Würde die Restluft in den abgestorbenen Lungen dafür ausreichen oder brauchte es dazu die Fäulnisgase, die sich erst nach Stunden entwickeln würden? Zischend öffnete sie eine Redbull Dose. Sie würde ausharren, und wenn es morgen würde.
Da, mitten auf dem See bildeten sich Kreise. Ein Schopf sah kurz aus dem Wasser, um sofort wieder abzutauchen. Eine Stunde dreißig. Das konnte unmöglich derselbe Mann sein. Vivienne duckte sich tiefer hinter den Busch und schaltete die Infrarotvideokamera an.
*
Durch die Wasseroberfläche schimmerte Mondlicht. Samuel tauchte tiefer, strich über den Morast des Seegrundes und wirbelte schwarze Schlieren auf, die er sehen und schmecken konnte. Die sanfte Strömung streichelte seinen Körper und er ließ sich treiben. Hier unten war er geborgen. Am liebsten würde er nie wieder auftauchen, aber die Luft wurde langsam knapp und mittlerweile war es so dunkel, dass selbst er kaum noch etwas erkennen konnte. Hättest du nicht eine Flaschenpost deponieren können?
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