Sassinak
Jemand ging an die Tür, beantwortete Anrufe, wimmelte Leute ab, die sie nicht sehen wollte, und sorgte dafür, daß sie einige Minute mit engen Freunden allein verbringen konnte. Jemand erinnerte sie daran, daß sie eine kurze Verschiebung ihres Dienstantritts beantragen mußte, weil sie für die Dauer der Untersuchung noch etwa eine Woche auf Regg gebraucht wurde. Ihre zerknitterte, befleckte Uniform verschwand und wurde sauber und geflickt zurückgebracht. Jemand schickte alle benötigten Uniformen an ihren neuen Bestimmungsort und ließ ihr nur noch einige Kleinigkeiten zu packen übrig. All das ging ruhig und reibungslos vonstatten, als sei sie eine Person von immenser Wichtigkeit, nicht bloß ein Fähnrich, der gerade die Schule beendet hatte.
Solang sie der Flotte angehörte, würde sie nie mehr ohne Hilfe sein; Abe hatte das immer wieder betont, es ihr eingehämmert, und sie hatte erlebt, wie die Flotte half. Aber jetzt fügte sich alles zusammen. Kein Feind konnte sie alle töten. Sie würde Freunde verlieren, enge Freunde, die ihr so nah standen wie eine eigene Familie, aber sie konnte die Flotte nicht verlieren.
Doch dieses Gefühl der Sicherheit machte ihr Abes Beerdigung nicht leichter. Die Polizei hatte ihr angeboten, einige Minuten mit seinem Leichnam allein zu verbringen, doch sie hatte das Angebot ausgeschlagen und sich nicht anmerken lassen, mit welchem Entsetzen es sie erfüllte. (Den Leichnam eines Menschen berühren, den sie liebte? Für einen Augenblick hatte sie das Gesicht ihrer kleinen Schwester Lunzie, die sie zum Kai getragen hatte, vor Augen.) In ein dunkelblaues Leichentuch gehüllt, wurde er von Flottenmarines in die Leichenhalle der Akademie gebracht. Sass wollte nichts davon wissen, wie eine Leiche für die Bestattung vorbereitet wurde; sie unterzeichnete die Formulare, die man ihr vorlegte, und überflog die Informationsblätter, die sie erhielt.
Die Leiche eines aktiven oder pensionierten Unteroffiziers konnte einen Tag lang für Besucher aufgebahrt werden. Damit erklärte sich Sass einverstanden: Abe hatte viele Freunde gehabt, die ihm sicher ihren Respekt erweisen wollten. Sein mit einer Flagge drapierter Sarg stand auf einer zeremoniellen Lafette in einer Seitenkapelle. Eine Reihe von Männern und Frauen, die meisten in Uniform, schüttelten Sass die Hand und gingen einer nach dem anderen daran vorbei. Einige, bemerkte sie, legten die Hand auf die Flagge und streichelten sie. Zwei waren Weber, was sie überraschte …
Abe hatte ihr nie gesagt, daß er Freunde unter den Webern hatte.
Die Beerdigung selbst, ein überliefertes Ehrenritual für einen Kriegskameraden, verlangte von Sass lediglich die gefaßte Ruhe und Selbstbeherrschung, die Abe ihr beigebracht hatte. Sie, die Trauernde, hatte nur diese einfache Rolle, und doch war es beinahe eine zu schwere Last für sie. Andere trugen seinen Sarg; sie trug ihre Dankbarkeit. Andere hatten einen Freund verloren; sie aber alle Bande zu ihrer Vergangenheit. Sie mußte wieder ganz von vorn anfangen, und während dieser Zeit konnte ihr nicht einmal die Flotte Trost spenden.
Aber sie wollte ihm keine Schande machen. Sie weinte und schluchzte nur in angemessenem Maße. Und die alten Kadenzen der Trauerfeier, die Rhythmen, die man schon seit Generationen gekannt hatte, noch bevor der erste Mensch in den Weltraum aufbrach, trösteten auf eine Weise, wie es kein menschliches Wesen vermochte.
»Aus der Tiefe rufe ich Dich, o Herr …« Die Stimme des Geistlichen tönte durch die Kapelle, durchbrach die Stille, die auf die Eingangshymne gefolgt war, und die Trauergemeinde antwortete.
»Herr, hör meine Stimme.«
Was der ursprüngliche Glaube besagt hatte, dem sich die Worte zu solchen Anlässen verdankten, kümmerte in der Flotte niemanden sonderlich –, aber der gemeinsame Glaube an etwas, das über das individuelle Leben und die individuellen Anstrengungen hinausging, ein Band des Glaubens an Liebe, Ehrlichkeit und Loyalität – das hatten sie alle gemeinsam. Und so setzten sie das alte Ritual fort.
»Öffne uns Dein Ohr, o Herr …«
»… und erhöre unsere Klage.« Sass dachte an den Mörder, und für einen Augenblick wühlten Rachegefühle ihr Herz auf. Eine Tages … eines Tages würde sie herausfinden, wer es warum getan hatte und … sie stolperte über eine Passage, die sich um Sühne und Gnade drehte, denn sie hatte für beides keinen Sinn.
Es folgten Lesungen und eine Hymne, die sich Abe gewünscht hatte und deren
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