Satanica
gelassen hatte. Sie wollte nicht mehr nach den Regeln leben, sondern nach den ihrigen. Wer nicht für sie war, der war gegen sie.
Und ihr Bruder?
Eine Frage, die sich der Dealer schon mehrmals in der letzten halben Stunde gestellt hatte. Irgendwo waren die Geschwister gleich. Sie gingen beide ihren Weg und ließen sich von nichts davon abbringen. Sie machten durch. Sie schlossen die Augen, ließen sich nicht stören. Sie waren nicht zu stoppen.
Und es würde zu keinem Kompromiß zwischen ihnen kommen. Eher zu einer Auseinandersetzung.
Eigentlich hatte Koko es nicht gewollt, aber er stand noch immer neben dem überwucherten Wasserbecken und horchte in sich hinein. Er wollte seine Gedanken ordnen und nicht mehr in einem Zwiespalt zwischen Bleiben und Flucht stecken.
Bleiben!
Er hatte sich urplötzlich entschlossen. Der Friedhof war wieder wichtig geworden. Besonders das Grabmal der Satanica. Er konnte sich nicht vorstellen, daß dort alles normal abgelaufen war. Es mußte einfach eine Auseinandersetzung und damit auch einen Sieger oder Verlierer gegeben haben.
Die dichte Natur grenzte ihn schon ein. So konnte er weder etwas hören noch sehen, bis auf die Wolken am düsteren Himmel. Die aber interessierten ihn nicht.
Koko machte sich wieder auf den Weg. Diesmal war er allein. Da brauchte er keine Rücksicht auf jemanden zu nehmen, und er bewegte sich schneller, war aber auf der Hut.
Wie ein zweibeiniges Tier schlich er über den finsteren Friedhof. Den Blick immer nach vorn gerichtet. Sein Mund stand offen. Er atmete im Rhythmus seiner Schritte. Kurz und hektisch.
Das Grab war schnell erreicht.
Kein Licht mehr schimmerte durch die natürliche Deckung. Die Dunkelheit hatte sich schon über die Stelle wie ein Vorhang gelegt. Der andere Geruch fiel ihm auf. Über den oberen Rand der Steine und der Büsche wehte er hinweg und kitzelte seine Nase.
Es war ein kalter Geruch und auch ein scharfer. Allerdings nicht unbekannt. Er entstand immer dann, wenn die Kerzenflammen ausgeblasen wurden.
Satanica hatte die Kerzen gelöscht. Saß sie jetzt im Dunkeln auf der Grabplatte?
Koko wurde nervös. Auf dem Kopf spürte er das Zucken und kratzte sich, ohne die Mütze abzunehmen. Der Herzschlag beschleunigte sich.
Ohne den Ort auch nur gesehen zu haben, wußte er, daß dort etwas passiert war.
Satanica hatte das Messer. Sie würde es einsetzen, das war ihm schon klar. Aber gegen den eigenen Bruder?
Gut, er hatte darüber mit Perry Brixton gesprochen, aber nicht so recht daran geglaubt.
Keine Schritte. Keine Stimme, die irgendwelche Beschwörungsformeln murmelte. Nur dieser stille, nächtliche Friedhof, auf dem die Konturen verschwammen und nichts mehr so ausgemacht werden konnte, wie es eigentlich war.
Eine schweigende Welt für sich, die von den längst verwesten Toten tief in der Erde regiert wurde.
Er näherte sich dem Grab von der Seite. Vorsichtig, denn er wollte nicht zu früh entdeckt werden. Seine Schritte stockten Sekunden später, dann vor dem Grab und auch dicht vor seinen Füßen lag die Gestalt.
Koko brauchte kein Licht, um zu erkennen, wen er hier vor sich hatte. Es war Perry Brixton. Er lag auf dem Rücken und war selbst zu einer düsteren und unbeweglichen Gestalt geworden. Doch es gab auf seinem Körper noch dunklere Flecken. In Bauch- und Halshöhe. Dort war das Blut aus zwei Wunden geströmt.
Direkt gekillt hatte der Dealer noch nicht. Und er hatte in seinem Leben nur wenige Tote gesehen. Dieser Streetworker war tot. Er war erstochen worden.
Über die Leiche hinweg warf der Mann einen Blick auf das Grab. Die Schale mit dem Blut stand noch dort. Er sah auch die Hühnerfedern, die Kerzenstummel, das Zeichen auf der Platte, aber das Messer fehlte.
Satanica mußte es mitgenommen haben, nachdem sie es zweimal in den Körper des Bruders gestoßen hatte.
Koko schauderte schon zusammen, als er daran dachte. Er fing an zu zittern. Sein Mund bewegte sich, ohne daß er es wollte, und ihm wurde verdammt kalt.
Eine Tragödie. Satanica hatte keine Gnade gekannt. Sie räumte jedes Hindernis aus dem Weg. Und sie hätte auch ihm die Kehle durchgeschnitten, wäre er früher hier erschienen. So hatte er noch verdammtes Glück gehabt.
Seine Knie waren von der ungewöhnlichen Haltung steif geworden, als er sich wieder erhob. Über die Haut rann ein Schauer nach dem anderen. Er blickte sich hektisch um, weil er sehen wollte, ob sich die Person noch zwischen den Büschen oder Grabsteinen bewegte.
Nein, da war
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