Saturn
aufzuzwingen.
Zeit, Gezeiten und Titan
Edouard Urbain stellte sich vor, am Strand von Titans
Kohlenwasserstoff-Meer zu stehen.
Titan ist größer als der Planet Merkur ‒ eine kalte und
dunkle Welt, die ungefähr zehnmal weiter von der Sonne
entfernt ist als die Erde. Die Wolken und der Dunst von Titans
dichter, trüber Atmosphäre filtern das Sonnenlicht zu einem
fahlen, schwachen Schimmer.
Urbain sah sich auf einem Eis-Vorsprung stehen und durchs
Helmvisier des Raumanzugs aufs schwarze, brodelnde Meer
schauen, das über das zerklüftete Eisfeld unter ihm
schwappte. In der Ferne zog ein rußiger ›Schneesturm‹ auf,
eine Wand aus schwarzen Kohlenwasserstoffflocken, die beim
Näherkommen den Horizont ausblendete.
Dann hellte die öde, gefrorene Landschaft sich plötzlich auf.
Er schaute nach oben, und ihm stockte der Atem. Die
Wolkendecke war für einen Moment aufgerissen, und er sah
den Saturn hoch am Himmel: Der majestätische
Himmelskörper war zehnmal größer als der Vollmond auf der
Erde, und die Ringe glichen der Klinge eines Skalpells, das
mitten durch den extravagant gestreiften Körper des Planeten
schnitt. Es gab keinen schöneren Anblick im ganzen
Sonnensystem, sagte er sich.
Nun setzte die Flut ein. Unter dem Zug der gewaltigen
Gravitationskraft des Saturn geriet das Kohlenwasserstoff-
Meer zu einer schäumenden Flutwelle, die schnell über die
zerklüftete Eislandschaft wanderte ‒ ein kriechendes Schleim-
Monster, das alles auf seinem Weg verschluckte, häusergroße
Eisbrocken zudeckte und den gefrorenen Boden mit
zischendem, blubberndem schwarzem Öl bedeckte, das die
Welt von einem Horizont zum andern überflutete. Bald würde
die Flut sogar den Vorsprung überschwemmen, auf dem
Urbain stand, und sich über den halben Titan ausbreiten,
bevor sie wieder zurückschwappte.
Eines Tages werde ich an diesem Meer stehen, sagte Urbain
sich. Ich werde mit wissenschaftlicher Ausrüstung anrücken
und in der schwarzen, öligen Flüssigkeit nach lebenden
Organismen suchen. Eines Tages.
Seufzend schaute er sich beim Wiedereintritt in die Realität
in seinem engen, kleinen Büro um. Er wusste, dass niemand
die Oberfläche des Titan betreten würde ‒ auf viele Jahre
hinaus nicht.
Dann fiel sein Blick auf die dreidimensionale Abbildung des
Landegeräts, das über seinem Schreibtisch schwebte. Es wirkte
plump und träge, doch für Urbain war es ein Symbol für
pragmatische Eleganz. Du wirst auf die Oberfläche des Titan
hinabsteigen, meine Schöne, sagte er stumm zu der Projektion.
Die Konstruktion des Landegeräts war im Grunde ein
Kinderspiel gewesen, wurde er sich bewusst. Es war unter
seiner gründlichen Aufsicht von seinen Ingenieuren und
Technikern gebaut worden. Dieser Teil war wirklich recht
einfach gewesen.
Die eigentliche Herausforderung bestand darin, dieses
Habitat zum Saturn zu bringen und in einer Umlaufbahn um
den Ringplaneten zu stationieren, so dass Urbain und seine
Wissenschaftler das Landegerät in Echtzeit zu steuern
vermochten.
Die Zeit hatte frühere Versuche zunichte gemacht, eine
Fernerkundung des Titan durchzuführen. Es dauerte mehr als
eine Stunde, ein Signal von der Erde zum Saturn zu senden,
selbst wenn die beiden Planeten sich am nächsten standen.
Ferngesteuerte Sonden scheiterten ungeachtet der technischen
Raffinesse an dieser Zeitverzögerung. Für Jahrzehnte hatten
Wissenschaftler auf der Erde frustriert mit den Zähnen
geknirscht, während eine Sonde nach der anderen in
Bodenspalten fiel oder von öligem schwarzem Schnee
überzogen wurde, nur weil es Stunden dauerte, bis die
menschlichen Controller ihnen die entsprechenden
Anweisungen zu geben vermochten.
Das war einmal, sagte Urbain sich. Nun werden wir das
Landegerät aus einer Entfernung von ein paar Lichtsekunden
kontrollieren. Notfalls können wir auch einen Befehlsstand im
Orbit um Titan selbst platzieren und die Reaktionszeit auf
weniger als eine Sekunde reduzieren.
Aber er wusste auch, dass kein Mensch den Fuß auf den
Titan setzen würde. Nicht für viele Jahre. Der Gedanke
betrübte ihn zutiefst. Er wollte selbst über diese kalte, dunkle
Oberfläche aus schwarzem Eis stapfen. Im tiefsten Innern
wollte Edouard Urbain der erste Mensch sein, der die
Oberfläche des Titan betrat.
317 Tage nach dem Start
»Meine Güte, hier unten sieht es aus wie in einem Filmstudio.«
Holly führte Manuel Gaeta durch den Versorgungstunnel,
der unterm
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