Saturn
Sie war etwas
größer als er, viel dünner und beherrschte die Kunst, in C&A-
Klamotten wie ein Dior-Model zu wirken. Sie verbrachten
jeden wachen Augenblick zusammen und schliefen natürlich
auch im selben Bett. Wo Charles jedoch von Gaetas Leistung
bei der Rettung des Astronauten schwärmte, war Elinor
skeptischer.
»Vielleicht haben sie die ganze Sache auch inszeniert«, sagte
sie in ihrer piepsigen und dennoch sexy Stimme zu ihrem
Mann.
Charles spielte das Video erneut ab. »Inszeniert? Wie hätten
sie das denn inszenieren sollen? Es war ein Unfall. Der Junge
hätte dabei umkommen können.«
»Sie hätten es schon vor Wochen zu inszenieren vermocht.
Als PR-Maßnahme.«
»Es hat aber niemand zugeschaut außer uns und der EVA-
Crew.«
»Aber sie haben alles auf einem Speicherchip, nicht wahr?
Sie werden es zu den Sendern auf der Erde übertragen.«
Charles schüttelte den Kopf. »Dazu brauchten sie eine
Genehmigung. Sie werden Vyborg fragen müssen; er ist für
die Pressemitteilungen zuständig.«
»Er wird es genehmigen«, sagte Elinor. »Sie müssen ihn nur
fragen. Er liebt die Öffentlichkeit.«
»Professor Wilmot aber nicht.«
»Dann fragen sie Wilmot erst gar nicht. Sie wenden sich an
Vyborg, und er wird es genehmigen und Wilmot einfach
übergehen.«
»Meinst du?«
»Ich wette einen Fünfer mit dir«, erwiderte Elinor.
Charles sagte nichts. Elinor hatte wahrscheinlich Recht. Das
hatte sie meistens. So auch in diesem Fall: Es erfolgte ein
Anruf von jemandem namens von Helmholtz, der sich als
Gaetas Cheftechniker identifizierte und um die Erlaubnis bat,
das Video von der Rettung an die Erde und nach Selene zu
übertragen. Charles leitete die Anfrage auf Vyborgs
Privatleitung um. In weniger als zehn Minuten rief Vyborg
zurück und erteilte die Erlaubnis.
»Du schuldest mir einen Fünfer«, sagte Elinor und grinste
kess.
»Ich wette nicht«, sagte er.
»Das macht keinen Unterschied«, sagte sie. »Das ist ein
moralischer Sieg für mich.«
Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Hast du dich schon
entschieden, wie wir unser Dorf nennen sollen?«
»Jedenfalls nicht Dorf C«, sagte sie.
»Ich finde, wir sollten es nach einer bedeutenden
literarischen Figur benennen. Vielleicht Cervantes. Oder
Shakespeare.«
»Wusstest du schon, dass beide im selben Jahr gestorben
sind?«
»Nein.«
»Doch. 1616. Du kannst es nachschauen.«
»Ich glaube es trotzdem nicht.«
»Willst du fünf Piepen wetten?«
»Darauf wette ich«, sagt Charles und streckte die Hand aus.
Sie gaben sich die Hand drauf, und Elinor sagte sich: Wir
sind nun schon über zehn Jahre verheiratet, und er hat immer
noch nicht geschnallt, dass ich nur sichere Wetten eingehe. Sie
lächelte ihren Mann voller Sympathie an. Das liebe ich so an
ihm ‒ unter anderem.
Holly und Gaeta gingen langsam den sanft ansteigenden Pfad
entlang, der zu ihrem Apartmentgebäude führte. Es war schon
weit nach Mitternacht; das Habitat befand sich im Nacht-
Modus. Die Sonnenfenster waren geschlossen, und es war
dunkel bis auf die Laternen, die auf schlanken Pfählen den
Pfad säumten, und den erleuchteten Fenstern in ein paar
Wohnquartieren.
»Schau mal zu den Sternen hoch«, sagte Gaeta und blieb
mitten auf dem Pfad stehen.
»Das sind keine Sterne«, sagte Holly, »sondern Lichter vom
Hochland.«
»Diese dort drüben sehen wie Blütenblätter aus«, sagte er
und wies nach oben. »Ich glaube, ich werde sie das ›Sternbild
der Blumen‹ nennen.«
Sie kicherte. »Das sind doch nur Lichter, Manny. Schau,
diese schlangenförmigen Linien dort oben…« ‒sie zeigte auf
die entsprechende Stelle ‒ »sind die Radwege zwischen der
Lebensmittel-Fabrik und Dorf C, und das Dorf selbst…«
»Sieht aus wie ein riesiger Tintenfisch, nicht wahr? Schau,
das ist der Körper, und dort sind die langen Tentakel.«
Sie stellte sich in der Dunkelheit so dicht neben ihn, dass sie
seine Körperwärme spürte.
»Und was ist das wohl für ein Sternbild?«, fragte sie und
deutete auf die parallelen Lichterketten, die einen Obstgarten
markierten.
»Schau'n wir mal«, murmelte er. »Wie wär's mit dem
Sternbild Tic-Tac-Toe?«
Sie mussten beide lachen, und plötzlich lag sie in seinen
Armen, und er küsste sie. Meine Güte, sagte Holly sich,
worauf lasse ich mich da nur ein?
»Er hat den Mann hierher gebracht?«, fragte Eberly.
Eberly stand am Spülbecken und hatte eine Schüssel voll
Frühstücksflocken in der Hand.
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