Saturn
Beton,
keinerlei Anzeichen eines Kampfes.
Niemand wird es je erfahren.
323 Tage bis zur Ankunft
Holly entdeckte die Leiche. Sie hatte Cardenas im Bistro
zurückgelassen und war zum Kanal gegangen, wo Don Diego
gearbeitet hatte. Zuerst sah sie keine Spur von ihm. Dann
erspähte sie seinen Körper am unteren Rand der Böschung,
halb im Wasser.
Sie schrie nicht. Sie weinte nicht einmal, als sie sich Stunden
später in der Abgeschiedenheit ihrer Unterkunft befand ‒
lange nachdem sie die Leiche des alten Manns aus dem Kanal
gezogen und das medizinische Notfall-Team ihn für tot erklärt
hatte.
Sie träumte in dieser Nacht von dem Vater, an den sie sich
nicht zu erinnern vermochte. Manchmal erschien er ihr im
Traum als Don Diego; manchmal war er eine schemenhafte
gesichtslose männliche Gestalt, groß und fast schon
bedrohlich. Einmal drehte der Mann ohne Gesicht ihr den
Rücken zu, und sie war wieder ein kleines Kind, das gerade
erst laufen lernte. Pancho war im Traum auch irgendwie
präsent, doch am meisten wünschte Holly sich, dass ihr Vater
sich umdrehte, damit sie sein Gesicht zu sehen vermochte. Sie
wollte ihn rufen, doch kein Laut entrang sich der Kehle. Sie
streckte die Hand nach dem Mann aus, und als er sich
schließlich doch zu ihr umdrehte, sah sie Malcolm Eberly mit
kaltem Blick auf sie herunterschauen.
Holly schreckte aus dem Schlaf und setzte sich im Bett auf;
der verstörende Traum löste sich langsam auf wie eine Wolke
an einem Sommertag. Sie duschte und kleidete sich schnell an,
ließ das Frühstück ausfallen und ging direkt zum kleinen
Krankenhaus des Habitats. Sie wollte mit dem Arzt sprechen,
der Don Diegos Leiche untersucht hatte. Sie wusste, dass sie
eigentlich Morgenthau anrufen und ihr sagen sollte, dass sie
später zur Arbeit käme, aber die Mühe machte sie sich nicht.
Im Krankenhaus war es still. Es herrschte eine ruhige,
gelassene Atmosphäre. Die Belegschaft des Habitats war im
Großen und Ganzen in einer guten körperlichen Verfassung
und machte trotz des kalendarischen Alters einen
jugendlichen Eindruck. Die größten medizinischen Probleme
waren Unfälle und psychische Erkrankungen. Und der
plötzliche Tod eines achtundneunzigjährigen Mannes, sagte
Holly sich.
Dr. Yaňez' gewohnheitsmäßiges fröhliches Lächeln
verschwand, als Holly ihn nach der Ursache von Don Diegos
Tod befragte.
»Sehr bedauerlich«, sagte er. »Sehr traurig. Er war ein
wunderbarer Mensch. Wir hatten viele lange Gespräche
miteinander geführt.«
Er fasste Holly sanft am Ellbogen und führte sie zur Tür, die
zum Garten im Innenhof des Krankenhauses führte.
»Ich will Sie aber nicht von der Arbeit abhalten«, sagte Holly.
»Es gibt heute nicht viel zu tun«, sagte er. »Unsere Leute sind
geradezu widerlich gesund.«
Er führte Holly aus dem zweistöckigen
Krankenhausgebäude hinaus und um den sorgfältig
angelegten Blumengarten im Innenhof herum. Holly sagte
sich, dass Don Diego dem Garten eine wildere,
ursprünglichere Anmutung verliehen hätte.
Yaňez schob die Hände in die Taschen des weißen Kittels
und sagte: »Don Diegos Tod gibt mir irgendwie Rätsel auf. Er
muss gestolpert und ins Wasser gefallen und ertrunken sein.«
»Wieso ist er einfach nicht wieder aufgestanden?«, fragte
Holly.
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er mit dem Kopf
aufgeschlagen. Er ist vielleicht ohnmächtig geworden ‒ zu
niedriger Blutdruck oder ein leichter Schlaganfall. Er war
immerhin schon hoch betagt.«
»Gab es Anzeichen eines Schlaganfalls?«
»Nein, aber ein leichter Schlaganfall hinterlässt auch keine
Spuren, die auf den ersten Blick sichtbar wären. Wir müssen
gezielt danach suchen, und selbst dann würden wir vielleicht
nichts finden. Wir sind hier schließlich nicht in New York oder
Tokio, müssen Sie wissen. Wir haben keine entsprechend
qualifizierten Pathologen.«
»Ich verstehe.«
»Es ist eine große Tragödie. Ein großer Verlust.«
»Sie sind sich aber sicher, dass es ein Unfall war?«, fragte
Holly.
Yaňez wirkte im ersten Moment erschrocken. »Ja. Natürlich.
Was sollte es sonst sein?«
»Ich weiß nicht.«
Der Arzt schaute zu Holly auf. »Er war mein Freund. Wenn
Fremdeinwirkungen als Todesursache vorgelegen hätten,
dann wäre ich darauf gestoßen, das versichere ich Ihnen. Es
war ein Unfall. Unglücklich und bedauerlich. Aber eben nur
ein Unfall, nicht mehr.«
Je mehr der Doktor dies beteuerte, desto stärker
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