Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
›Du sollst nicht töten‹?«
»Ich habe sie nicht getötet«, wiederholte er. »Sie können mich nicht in Haft nehmen, Sie haben keine Beweise.«
»Sie sind verdächtig, Sie haben kein Alibi und ich kann Sie schon wegen Fluchtgefahr in Haft nehmen«, konterte Streiff.
»Hören Sie, ich bin nicht geflohen, ich wollte einfach für mich sein, ich habe mir das gar nicht überlegt. Verstehen Sie denn nicht, ich trauere um meine Frau. Wäre ich zurückgekommen, wenn mein Rückzug eine Flucht gewesen wäre?«
Er kämpft, dachte Streiff. Wofür kämpft er? Um seine Unschuld glaubwürdig zu machen oder um seine Schuld zu verschleiern?
»Hören Sie, ich habe ein Alibi. Ich hatte an jenem Abend Besuch.«
Streiff sagte nichts.
»Ich habe es nicht gesagt, weil ich jemanden schützen wollte. Ein junges Mitglied meiner Gemeinde. Es wollte einen Rat von mir. Aber seine Eltern sehen es nicht gern, dass es in meine Jugendgruppe kommt.« Streiff kam Linas Erzählung in den Sinn von der Tochter einer Bekannten von ihr.
»Es wäre gut, wenn Sie endlich begreifen, dass Ihre Lage ernst ist und dass Sie mit Diskretion und Privatsphäre nicht weiterkommen. Sie behindern damit die Polizeiarbeit. Name, Adresse?«
»Lena Rhyner. Bitte behandeln Sie das diskret. Und jetzt lassen Sie mich gehen. Ich habe seelsorgerische Pflichten. Ich kann meine Gemeinde nicht im Stich lassen.«
»Ich werde dieses Alibi sehr genau prüfen. Und wenn Ihnen diese Frau ein Gefälligkeitsalibi gibt, werde ich das herausfinden. Übrigens brauche ich auch noch Namen und Adressen der Nachbarn, die Sie in Ihrem Ferienhaus gesehen haben. Wenn ich Ihre Alibis geklärt habe, können Sie gehen. Solange warten Sie. Wenn Sie wollen, kriegen Sie Papier und Bleistift, um eine Predigt zu entwerfen.« Streiffs Sarkasmus war unüberhörbar .
Legler biss sich auf die Lippen.
Das Gespräch mit Lena Rhyner, die Legler am Mordabend angeblich besucht hatte, hinterließ in Streiff einen zwiespältigen Eindruck. Er war zu ihr nach Hause gefahren, etwas argwöhnisch. Fritz Legler hätte jedenfalls genug Zeit gehabt, sich mit ihr abzusprechen. Hatte nicht Elmer gesagt, er habe einen großen Einfluss auf seine Anhänger? Sie war eine 19-jährige, schüchterne junge Frau, die Tochter einer Freundin von Lina Kováts, die Leglers Jugendgruppe besuchte. Sie kannte ihn schon seit Jahren. Er hatte sie konfirmiert und als er die Landeskirche verlassen und sich dieser Freikirche angeschlossen hatte, war Lena ihm gefolgt. Sie lebte mit ihrer Mutter in einer Dreizimmerwohnung im Friesenbergquartier. Ihr Zimmer, stellte Streiff fest, als er einen Blick durch die offen stehende Tür warf, war noch eingerichtet wie ein Kinderzimmer. Plüschtiere auf dem Bett. Ein großes Poster mit einem jungen Elefanten an der Wand.
Lena Rhyner wirkte jünger, als sie war, ein bisschen unbeholfen. So als fühlte sie sich in ihrem Körper nicht ganz zu Hause. Das braune Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden. Ihr Kleid war modisch, aber es stand ihr nicht. Sie möchte hübsch sein, dachte Streiff, aber sie weiß nicht, wie das geht.
Er fragte sie nach dem Mordabend.
»Ja, ich war bei Herrn Legler«, bestätigte die junge Frau. »Ich wollte ihn um Rat fragen wegen meines Studienfachs. Im Sommer mache ich die Matura. Ich weiß nicht, ob ich Theologie oder Religionswissenschaften studieren soll. Oder vielleicht Philosophie?«
Sie schien in dieser Frage immer noch ratlos zu sein.
»Meine Mutter meint, ich solle Fächer studieren, die ich später unterrichten kann. Aber … ich möchte nicht irgendetwas studieren, sondern Antworten bekommen auf die Fragen, die im Leben wirklich wichtig sind.« Sie brach ab. Nervös wickelte sie sich ihren dünnen Schal um einen Finger.
»Was sind denn diese Fragen?«, fragte Streiff.
»Warum wir leben. Was nach dem Tod sein wird. Und wie das Wissen darüber überliefert worden ist in den verschiedenen Religionen.«
»Wie ist Ihre Beziehung zu Herrn Legler? Warum haben Sie gerade ihn um Rat gefragt?«
»Er weiß sehr viel. Er ist gefestigt im Glauben.« Was für ein seltsamer Satz, dachte Streiff, ohne Lena zu unterbrechen.
»Er kümmert sich ein wenig um mich. Mein Vater lebt ja nicht bei uns. Er ist in England. Schon seit mehreren Jahren.«
»Was haben Sie gedacht, als Sie vom Tod seiner Frau erfahren haben?«
»Es war ganz furchtbar. Er hat mir so leidgetan. Gott will ihn prüfen, habe ich gedacht, und er wird diese Prüfung bestehen.«
Streiff gewöhnte
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