Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
sich allmählich an diese Terminologie. Er zuckte nicht mehr jedes Mal innerlich zusammen, wenn ein solch salbungsvoller Satz fiel.
»Kannten Sie Frau Legler?«
»Nur flüchtig. Sie war nicht oft dabei bei den Gottesdiensten.«
»Haben Sie eine Idee, wer sie getötet haben könnte?«
»Ich? Nein. Sie ist ja auf dem Flohmarkt angegriffen worden. Vielleicht war es ein politischer Extremist.«
»Was hat Herr Legler Ihnen denn geraten, was Sie studieren sollten?«, wollte Streiff wissen.
»Theologie«, gab sie zur Antwort. »Ich soll Theologie studieren. Er meint, es habe keinen Sinn, sich mit anderen Religionen zu befassen, die ja im Irrtum seien. Ich solle mich in die richtige Lehre vertiefen.« Sie spielte mit ihrem Kupferarmreif.
»Und Sie? Finden Sie das auch richtig?«
»Ja.« Plötzlich wirkte sie sicher. Dieser Pfarrer hat großen Einfluss auf sie, registrierte Streiff.
»Von wann bis wann waren Sie bei ihm?«
»Ich bin um 20.30 Uhr hingegangen und bis gegen 23 Uhr geblieben.«
»Haben Sie mit Herrn Legler an jenem Abend auch über anderes als über Ihr Studium gesprochen?«
»Er hat mir Bücher gezeigt, die ich lesen soll.«
»Und über Persönliches?«
Lena Rhyner sah ihn verwirrt an. »Warum fragen Sie das?«
»Sie sagten, Herr Pfarrer Legler habe sich ein wenig um Sie gekümmert. Ist er eine Vertrauensperson für Sie? Wenden Sie sich auch bei privaten Problemen an ihn?«
»Manchmal schon.« Ihr Gesicht verschloss sich.
»Sind Sie verliebt in ihn?«
Die junge Frau wurde rot. »Wie können Sie das fragen? Herr Legler ist – war verheiratet. Und die Ehe ist ein heiliges Sakrament.«
War ein heiliges Sakrament, dachte Streiff. Denn jetzt ist er ja Witwer. In allen Ehren wieder zu haben. Ob die Kleine so weit gehen würde, ihm ein falsches Alibi zu geben? Irgendwie tat sie ihm leid. Obwohl man kein falsches Zeugnis ablegen durfte? Gebote, sogar biblische Gebote, waren im Ernstfall immer dehnbar und interpretationsbedürftig.
»Vielleicht könnten Sie ja Philosophie im Nebenfach studieren«, sagte er.
Barbara Rhyner, Lenas Mutter, konnte zwar nicht bestätigen, dass Lena vorhatte, an dem Abend den Pfarrer aufzusuchen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie fragte Lena nicht ständig, was sie tat, und Lena, die wusste, dass ihre Mutter es nicht besonders gern sah, dass sie in diese Jugendgruppe ging, hätte ihr kaum erzählt, dass sie den Pfarrer um Rat fragen wollte. Sie konnte auch nicht sagen, ob Lena an jenem Abend zu Hause gewesen war, da sie selbst ins Kino gegangen war. An Leglers Alibi für den Abend, an dem seine Frau umgekommen war, war erst mal nicht zu rütteln.
Es wurde 22 Uhr, bis Streiff Legler gehen ließ. Die Kantonspolizei Uri hatte einen Beamten mit einem Jeep auf die Eggberge geschickt, um die Bauernfamilie zu befragen, die nicht weit von Leglers Chalet lebte. Nach 21 Uhr kam die Antwort des Polizeibeamten Stadler aus Altdorf. Familie Küchler hatte bestätigt, dass man Fritz Legler seit Donnerstag ab und zu von Weitem gesehen hatte. Sie kannten ihn und seine Frau seit Jahren. Vom Mord in Zürich hatten sie gehört. Die Frau habe zum Mann gesagt, du, das sind doch die Leglers, die das Chalet da unten haben. Und dann habe der Mann berichtet, der Legler sei jetzt da. Vorbeigegangen seien sie nicht, was hätte man auch sagen sollen, der arme Kerl. Man wollte ja nicht neugierig erscheinen. Abends habe im Häuschen Licht gebrannt. Der Angestellte der Luftseilbahn hatte ausgesagt, dass der Pfarrer am Mittwoch mit der letzten Bahn hinaufgefahren und am Samstag am frühen Nachmittag wieder hinuntergefahren war. Beim Wirt des Restaurants, an das ein kleiner Lebensmittelladen angeschlossen war, hatte Legler am Mittwochabend Milch, Butter, Brot, Äpfel, Karotten, zwei Flaschen Wein und eine Packung Spaghetti gekauft. Die Eggberge gaben ein ausgezeichnetes Alibi ab. Die letzte Luftseilbahn fuhr abends um 18 Uhr. Dann gab es kein Herunter- oder Heraufkommen mehr, es sei denn, in einem drei- bis vierstündigen Fußmarsch durch den dunklen Wald.
Gegen 23 Uhr kam Streiff nach Hause. Er rief bei Valerie an, aber sie hob nicht ab.
Janine Bianchera saß im Wohnzimmer. Eine gedimmte Lampe spendete gedämpftes Licht. Rubina war im Bett. Sie war erschöpft. Die letzten Tage waren schlimm gewesen. Rubina hatte erst nicht glauben wollen, dass ihr Papa tot war.
»Du lügst«, hatte sie geschrien, »ich hasse dich, wenn du sagst, Papa ist tot. Bald wird er mich abholen. Und dann komme
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