Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
Gehen ist eine sehr zivilisierte Aktivität, noch dazu angenehm leise. Schließlich schlendere ich mit weniger als einer Meile Stundengeschwindigkeit einher.
Ich stellte also meinen Laptop auf eine Holzkiste und baute mir eine Art Geländer um das Laufband, damit ich die Ellenbogen abstützen kann. Eine Konstruktion, der ein halbes Dutzend gescheiterter Versuche mit Wörterbuchstapeln, Aktenschränken und Klebeband vorausging. Der letzte hat sich allerdings bewährt.
Gerade im Moment benutze ich meinen Laufbandschreibtisch übrigens auch. Für dieses Kapitel habe ich bisher anderthalb Meilen gebraucht. Mein Buch soll das erste überhaupt sein, das nahezu ausschließlich auf einem Laufband geschrieben wurde.
Hier und da bekam ich natürlich auch skeptische Kommentare zu hören. Meine Tante Marti schimpfte mit mir, als ich ihr davon erzählte. Sie sagte, das sei ungesundes Multitasking. Dass ich auf dem Ding niemals ganz in der Gegenwart aufgehen könne, was ja wohl völlig unbuddhistisch sei. Und Julie fragte: »Lenkt dich das Laufen nicht vom Schreiben ab?«
Aber insgesamt komme ich gut mit meinem Laufbandschreibtisch zurecht. Klar, zu Anfang war es etwas seltsam. Man muss erst in die Gänge kommen, den Sirenengesängen des Stuhls widerstehen. Inzwischen habe ich jedoch den Eindruck, dass das Gehen während der Arbeit meine Konzentrationsfähigkeit verbessert. Wenn ich im Sitzen arbeite, bin ich zappelig. Ständig möchte ich kurz aufstehen, um mir etwas zu essen zu holen, auf die Toilette zu gehen, die Blumen zu gießen – alles eben, was sich so an Gründen findet, die Arbeit noch ein bisschen aufzuschieben. An meinem Laufbandschreibtisch hingegen baue ich meine ganze nervöse Anspannung quasi nebenbei ab. Und außerdem kann man im Laufen nicht einschlafen. Kein unwichtiges Argument.
Ich frage mich, ob der Laufband-Schreibtisch wohl meinen Stil verändert hat? Sind meine Texte jetzt kraftvoller? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass ich ganz allgemein selbstbewusster und zuversichtlicher bin, wenn ich auf dem Laufband gehe. Mir ist eher danach, begeisterte E-Mails zu schreiben wie »Mountainbike-Tour in Connecticut? Super Idee – ich bin dabei! Es soll zwar gewittern – aber egal!«
Offenbar macht sich gefährlicher Übermut in mir breit. Ich muss auf mich aufpassen.
Vor grauem Haar sollst du aufstehen
Heute habe ich einige Zeit in der Wohnung meines Großvaters gestanden. Für mich war es fast selbstverständlich, bei meinem Besuch nicht zu sitzen, sondern neben seinem gemütlichen braunen Ruhesessel zu stehen. Das Alte Testament gebietet uns ohnehin, vor grauem Haar aufzustehen – da war mein Verzicht auf eine Sitzgelegenheit eine schöne Reminiszenz an das Jahr, in dem ich die Bibel beim Wort nahm.
Bei Großvater ist heute Kinotag. Einer seiner ehemaligen Kollegen ist gerade bei ihm; er möchte einen Dokumentarfilm anschauen, in dem Großvater vorkommt. Meine Tante Jane, eine Anwältin, die aus Maryland zu Besuch ist, legt die DVD ein und drückt auf Start. In dem Film geht es um Christo und sein Werk The Gates . Vielleicht erinnern Sie sich: 2005 installierte Christo im Central Park einen ganzen Wald metallener Tore, die mit orangefarbenen Stoffsegeln bespannt waren. Mein Großvater war damals Christos Anwalt.
Ich kenne den Film bereits. Trotzdem ist es schön, ihn noch einmal mit Großvater anzuschauen. Er hat seine helle Freude an seinem jungen, nassforschen Alter Ego.
Der Film beginnt mit dem ersten Treffen zwischen Großvater und Christo vor nunmehr über 30 Jahren. Man hört das fröhliche Rattern von Schreibmaschinen und sieht, wie Christo und seine Frau Jeanne-Claude Großvaters Büro betreten. Großvater telefoniert gerade und klingt gewichtig. (»Gut«, »okay«, »Wir müssen sichergehen, dass das Protokoll der Wahrheit entspricht«.) Er nickt den beiden Künstlern zu und bedeutet ihnen, Platz zu nehmen.
Endlich beendet er das Telefonat, legt den Zeigefinger an die Schläfe und hört zu, wie der bulgarische Exzentriker mit dem wirren Haar und seine französische Frau von ihrem Plan erzählen. Sie wollen im Central Park 18 000 Tore aufstellen, sagen sie. Meinem Großvater, Version 1979, fällt fast der Kaffee aus dem Gesicht. Mein Großvater, Version 2010, schaut seinem Alter Ego von seinem Ruhesessel aus zu und lacht. »Ich habe die beiden an dem Tag erst kennengelernt«, sagt er. »Ich wusste so gut wie nichts über sie. Für mich waren das zwei Irre.«
Am Ende der Besprechung ist
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