Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
der Steinzeit. Wir ordnen automatisch alles in eine von zwei Kategorien ein: essbar oder giftig.«
In dem Punkt stimme ich Seavey zu. Unabhängig von der Frage, welche mutmaßlichen Giftstoffe tatsächlich giftig sind, hat die Sehnsucht nach reinen, unverfälschten Naturprodukten nahezu religiöse Züge angenommen. Insofern erinnert mich die derzeitige Toxinbesessenheit an die komplizierten Regeln koscherer Ernährung, die ich lernte, als ich die Bibel beim Wort nahm. Für Bio-Anhänger ist Chemie in Haushalt und Lebensmitteln dasselbe, was Schweinefleisch für orthodoxe Juden ist: unrein, fast ekelerregend.
Die Leute glauben irrigerweise, alles Natürliche sei automatisch gut, sagt Seavey, aber selbst Arsen und Schierlinge sind Naturprodukte.
Genauso irrig sei die Annahme, es gebe in der Natur keine Chemikalien: Auf seiner Website behauptet der ACSH , »99,99 Prozent der chemischen Stoffe, die wir über die Nahrung zu uns nehmen, sind natürlichen Ursprungs«. Oder wie es ein neunmalkluger Blogger ausdrückte: »Sogar die strenggläubigsten Gesundheitsapostel bestehen fast ausschließlich aus Chemie.«
Leben ohne Gift
Marti hat mir eine Liste gemailt, auf der alles steht, was ich tun und lassen muss, um ein giftstofffreies Leben zu führen. Ich beschließe, die ganze Woche der Umsetzung dieser Gebote zu widmen. Hier mein Tätigkeitsbericht für Tag 1:
9 Uhr: Zu Whole Foods gelaufen, um Bio-Erdbeeren und Bio-Himbeeren zu kaufen (Kosten: $ 4,75). Darf nicht mehr mit dem iPhone telefonieren. Marti hat’s verboten, weil Mobiltelefone im Verdacht stehen, Hirntumore zu verursachen und die Spermienproduktion zu beeinträchtigen. Langweile mich zu Tode.
10 Uhr: Morgendliche Waschungen. Unter der Dusche Mixtur aus Olivenöl und Mineralsalzen als Seifenersatz verwendet (Rezept auf einer Bio-Website gefunden). Kam mir vor wie ein alter Römer. Backpulver und Apfelessig anstatt Shampoo. Habe ewig gebraucht, um das Zeug wieder rauszuwaschen, aber jetzt fühlen sich meine Haare ganz weich an und trotzen einsteinmäßig der Schwerkraft. Deo besteht aus Maisstärke und Backpulver. Unangenehm klebrig.
11 Uhr: Bedecke unsere Deca BDE -getränkten Sofapolster mit Laken aus Bio-Baumwolle.
12 Uhr: In der Küche auf Bisphenol-A-Jagd. Nehme die Recycling-Codes sämtlicher Plastikbehältnisse unter die Lupe, murmele dabei das Mantra aller Bisphenol-A-Gegner: »Eins, zwei, fünf und vier – der Rest ist schlecht, das sag ich dir.«
13 Uhr: Erkläre Julie, warum Couch mit Bio-Baumwolllaken bedeckt ist. Warte, bis sie mit Augenverdrehen fertig ist.
14 Uhr: Warte im Restaurant auf Roger. Per E-Mail fragt er nach meiner Mobilnummer. »Ich benutze derzeit kein Handy. Ruf doch im Restaurant an.« Er antwortet: »Ich schick dir ein Telex.« Haha.
15 Uhr: Mache mich mit Backpulver und Essig an die Beseitigung von Rotweinflecken im Wohnzimmer. Julie sagt, sie findet Essiggeruch schlimmer als Rotweinflecken.
16 Uhr: Mache mir Sorgen, Brownies Wassernapf könnte Bisphenol A enthalten und seinen kleinen Echsen-Hormonhaushalt durcheinanderbringen. Mache mir dieselben Sorgen beim Blumengießen mit Plastikgießkanne. Sollte meine Großhirnrinde eigentlich mit wichtigeren Themen beschäftigen.
Fazit am Ende des Tages: Ich kann Giftstoffe nicht so konsequent aus meinem Leben verbannen wie Marti. Mit drei Kleinkindern und den ganzen anderen Gesundheitsaktionen, die noch auf meiner Liste stehen, ist das physisch und logistisch unmöglich. Was jedoch keinesfalls heißt, dass ich die Gefährlichkeit von Giftstoffen verharmlosen will. Dazu gibt es einfach zu viele beunruhigende Fakten. Die American Cancer Society geht davon aus, dass in den USA jährlich 34 000 Todesfälle auf Umweltgifte zurückzuführen sind. Und 2010 kam eine von der Regierung berufene Expertenkommission zu dem Schluss, dass diese Schätzung noch »grob untertrieben« sein könnte. In industriellen Herstellungsverfahren werden 80 000 Chemikalien verwendet; nur 200 davon wurden bisher von der amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA auf gesundheitliche Unbedenklichkeit überprüft.
Gibt es in dieser Situation überhaupt einen Mittelweg zwischen Verharmlosung und Panik?
Ich rufe David Ewing Duncan an, einen Journalisten, der sich intensiv mit Aspekten des amerikanischen Gesundheitswesens befasst. Er ließ seinen Körper auf Giftstoffe aller Art untersuchen und veröffentlichte die Ergebnisse 2009 in dem Buch Experimental Man. What One Man’s Body Reveals about His Future, Your
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