Saugfest
Instinktiv habe ich sogar den Korb mitgenommen, und das Kopftuch trage ich auch noch.
»Spielen Sie Märchen nach?«, fragt mich der Mann. »Wollen Sie als … «
»Nein! Nicht das böse Wort sagen!«, fahre ich dazwischen. Der Heuler zuckt schon wieder so komisch. »Er kann mit Märchen nicht so gut«, ich deute auf den Wolf. »Er verträgt das nicht.«
Der Mann sieht mich an. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Gar nichts habe ich mit ihm gemacht.« Ich überlege kurz. »Woher kennen
Sie
diesen Wolf überhaupt?« Diese Frage finde ich gerechtfertigt. Das ist alles schon merkwürdig genug, aber möglicherweise klärt es sich ja auf. Vielleicht liegt einfach nur eine tragische Verwechslung vor, über die wir uns gleich gemeinsam amüsieren werden, dabei schlagen wir uns selbstverständlich gegenseitig auf die Schultern und prusten so blöde Sachen wie »Und ich dachte schon … « oder: »Wissen Sie, was ich geglaubt habe, wissen Sie’s?«
»Das geht Sie nichts an«, werde ich informiert.
Auch gut. Dann eben nicht. Gemeinsames Amüsement habe ich noch nie gekonnt. Ich lege sowieso keinen gesteigerten Wert auf eine weitere Kommunikation mit diesem Herrn, sondern möchte meinen Job erledigen, und wenn ich dabei den Heuler auch gleich noch loswerde, habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Obwohl es wie aus Eimern gießt, zieht der Mann seine Lederkapuze vom Kopf und legt den Kopf in den Nacken. »Das ist ein guter Regen«, sagt er.
Ein bisschen erinnert er mich an Mel Gibson in
Braveheart
. Weil ich nämlich jetzt auch noch sehe, dass er sehr lange Haare hat. Fast bis zu den Hüften fallen sie ihm. Und dann diese Augen! Sie sind schwarz, glänzend und enorm groß. Er wirkt einerseits unheimlich und andererseits so
erfahren
, wie ein steinalter Mann, der viele Erlebnisse hinter sich gebracht hat, und das, obwohl er nicht viel älter zu sein scheint als ich.
»Guter Regen macht mir nichts aus. Es kommt immer darauf an, wie er fällt«, sagt er fast heiser.
Ja, darüber mache ich mir auch ständig Gedanken.
»In Schottland fällt er meistens lotrecht.«
Ich sag’s ja, Mel Gibson. Vielleicht will der Mann mich gleich noch einladen, im Regen mit ihm auszureiten, und später lassen wir uns von einem gälischen Priester heimlich in einem teilgerodeten Wäldchen trauen, aber die Ehe ist nicht von allzu langer Dauer, sondern wird von einem Soldaten, der Edward dem Ersten dient, heimtückisch beendet, weil ich gefangen genommen und an einen Baum gebunden werde, woraufhin mir die Kehle durchgeschnitten wird. Annkathrin liebt solche Filme und zwingt mich manchmal, sie mit ihr zu schauen, was ich so langweilig finde, dass ich es gar nicht in Worte fassen kann. Sie muss ständig heulen, ich schlafe ein. Herrje, das sind Filme.
Spielfilme.
Das ist doch nur gestellt. Diese Murron, also diese Frau vom Mel Gibson in diesem Film, die wird ja gar nicht wirklich hingerichtet. Außerdem ist das doch alles schon so viele hundert Jahre her. Der Film spielte, glaube ich, im 13 . oder 14 . Jahrhundert. Für diese Geschichte interessiert sich doch niemand mehr.
»Es ist noch gar nicht so lange her, so vor zwei-, dreihundert Jahren, da gab es nur guten Regen«, faselt der Mann weiter und lächelt mich tiefgründig an.
»Aha«, sage ich. Er scheint bekloppt zu sein. Oder will er mir
Angst machen? Nicht mit mir. »Ja, ich kann mich auch noch gut daran erinnern«, sage ich. »Im Juni 1745 , es war ein Sonnabend, da regnete es so richtig schön. Ich befand mich damals gerade auf dem Nachhauseweg vom Feld, barfuß natürlich, ich trug Spaten und ein Reisigbund wie ein Mütterlein, ich wollte nur noch heim zu meinem Gatten, zu Kindern und Viehzeug, ach, was bin ich nass geworden.« Der soll mal nicht glauben, dass er mich einschüchtern kann! Außerdem weiß ich jetzt, wie die Leute damals sprachen, ich hab dem Heuler ja Rotkäppchen vorgelesen. Und, das finde ich besonders gut, ich glaube, ich wirke authentisch, wegen der Tracht, des Kopftuchs und des Weidenkorbs.
Der Langhaarige lächelt immer noch. Jetzt hat das Lächeln allerdings eher zynische Züge angenommen. »So, so«, sagt er mit dunkler Stimme.
»Ja, so ist das nun mal.« Ich nicke. »Wo ist denn hier der Eingang? Ich soll nämlich jemanden abholen. Ich bin Taxifahrerin. Leider habe ich kein Ochsengespann und auch keine Kutsche dabei, sondern nur ein profanes motorbetriebenes Vehikel. Ich hoffe trotzdem, dass die Fahrgäste sich darin wohlfühlen werden.«
Er
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