Scatterheart
Sonne schützte. Sie hatte ein vornehmes, wenn auch ein wenig altmodisches Kleid mit Umhang an. Hannahs Herz klopfte so laut, dass sie meinte, die Frau müsste es hören.
Sie umrundeten die Landspitze und dann sah Hannah die Bucht von Sydney in ihrer ganzen Größe. Die Stadt war eigentlich keine richtige Stadt, nur ein paar gelbe, von Äckern umgebene Steinhäuser waren zu erkennen, und dahinter lag der Wald. Das Städtchen wurde von einem Fluss in zwei Hälften geteilt.
Hannah konnte kaum stillhalten. Sie strich ihr graues Leinenkleid glatt und kniff sich in die Wangen. Ihre Haare waren schon wieder mehrere Zentimeter lang gewachsen. Sie versuchte sie hinter ihre Ohren zu stecken und wünschte, sie hätte einen richtigen Spiegel und ein paar Bänder gehabt, um sich schön zu machen.
Als das Schiff schließlich am Kai anlegte, hielt Hannah nach Thomas Ausschau. Die jubelnde Menge aus ihrem Traum war nicht da. Nur ein paar gelangweilt blickende Offiziere und eine Handvoll Hafenarbeiter, die beim Ausladen helfen sollten.
Thomas war nirgends zu entdecken.
Rufe ertönten, dann ein Kreischen und Platschen, als der Anker ins Wasser fiel. Ein Landungssteg wurde auf den Kai gelassen und Captain Gartside ging, von einigen Offizieren begleitet, von Bord. Sie wechselten ein paar Worte mit den wartenden Männern, dann drehte sich der Captain um und gab den Offizieren, die auf der
Derby Ram
geblieben waren, ein Zeichen.
»Meine Damen«, rief der Bootsmann, »in einer Reihe aufstellen. Nicht drängeln.«
Die Frauen schoben sich den Laufsteg hinab. Hannah und Molly waren am hinteren Ende der Schlange. Dann stand Hannah am Kai und wandte sich suchend um.
Er war nicht da.
Ihr war, als würden die Holzbohlen des Kais unter ihr schwanken und wegrutschen. Ihr wurde schwindelig und schummerig vor den Augen. Sie hatte sich alles so genau ausgemalt. Sie und Thomas, die sich in die Arme fielen, die vor Freude weinten und lachten. Wie zum Hohn sah sie wieder und immer wieder diese Szene vor sich.
Er war nicht da.
Molly zog sie am Arm.
»Vielleicht hat er sich verspätet«, sagte sie.
Hannah nickte und schluckte. Sie knetete das Taschentuch in ihrer Hand. Panisch versuchte sie sich ihr letztes Gespräch mit Thomas in Erinnerung zu rufen. Hatte er wirklich gesagt, er führe nach New South Wales? Und wenn er gar nicht da war? Wenn er in London geblieben war? Wenn er in Frankreich gegen Napoleon kämpfte? Oder wenn man ihn nach Afrika oder China geschickt hatte?
»Komm endlich«, sagte Molly noch einmal und zog wieder an ihrem Arm.
Hannah machte einen Schritt, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Der Kai schien unter ihr wegzurutschen und ihr Fuß trat ins blanke Nichts. Sie stolperte und fiel der Länge nach auf den Boden.
Starke Hände fassten sie von hinten und hoben sie hoch. »Du musst deine Beine wieder an festen Boden gewöhnen«, sagte eine Stimme. Hannah erinnerte sich, dass diese Arme sie auf die
Derby Ram
getragen, dass diese Stimme mit ihr gesprochen hatte. Sie drehte sich um. Es war James, der sie liebevoll anlächelte, als sei niemals ein böses Wort zwischen ihnen gefallen. Hannah bemerkte die frische weiße Narbe an seinem Finger, wo sie ihn gebissen hatte. Heiße Tränen brannten in ihren Augen, sie kniff sie schnell zusammen. Ihre Kehle war vor Kummer und Enttäuschung wie zugeschnürt. Er war nicht da. Er war nicht gekommen.
Sie taumelte vorwärts. James’ Hand lag auf ihrer Schulter. Der Boden unter ihren Füßen schaukelte und schwankte unaufhörlich. Das Licht war so grell, dass Hannahs Kopf heftig schmerzte.
Durch einen Tränenschleier hindurch nahm sie breite, unbefestigte Straßen wahr, die rechts und links von sandfarbenen Häusern gesäumt waren und auf denen Pferdekarren und leichte Kutschen rumpelten. Am Rand der kleinen Stadt standen armselige Hütten aus Flechtwerk und Lehm. Hannah bemerkte auch ein paar primitive Schuppen, die sich unter die grauen Felsüberhänge der Hügel duckten. Zwischen den Felsen und Hütten rannten barfüßige Kinder umher. Sie machten einen wilden und ungepflegten Eindruck und Hannah erinnerte sich an die zerlumpten spielenden Jungen und Mädchen, diesie in London gesehen hatte und die ihr nun im Vergleich zu diesen finsteren Gestalten wie wohlerzogene Kinder aus gutem Hause vorkamen.
Vor einer Hütte stand ein Mann, der bis auf einen Lendenschurz und eine Art Fellumhang nichts anhatte. Seine Haut war kohlrabenschwarz. Er beobachtete Hannah und sie erschrak, weil das
Weitere Kostenlose Bücher