Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
Vom Netzwerk:
die Schuhe aus. Sie
bewegte sich nicht einmal. Joe deckte sie mit einer Decke aus dem
Schrank zu und legte sich nach kurzem Zögern wieder zu ihr.
Im Lauf seines langen, reinigenden Vortrags (reinigend wovon?
fragte eine spöttische Stimme, aber er war zu müde, um
zu antworten) war jedes sexuelle Begehren aus ihm gewichen. Er
drehte sich um und zog an der Decke, bis diese sie beide
bedeckte.
    Der Schlaf kam nur langsam. Helle Bilder tanzten hinter seinen
Lidern, lebhafte Eindrücke ohne Verbindung miteinander:
Catherines Hände an ihrem Bauspielzeug; der Anblick des
Mohawk River von der ungewöhnlichen Höhe des Flugwagens
aus; Angels zorniger, verschlossener Blick; Mr. Holiworths
Xerox-Ricoh-1340-Kopierer, der nur aus Luft bestand.
     
    Er erwachte von einem leisen Weinen. Das Zimmer schien
durcheinander zu sein; er konnte sich nicht erinnern, wo er war
und warum er hier war. Nichts war am richtigen Platz. Als sein
Sehvermögen besser wurde, sah er Caroline auf der anderen
Seite des Zimmers am ausgeklappten Wandbildschirm sitzen; sie
wandte ihm das Gesicht zu. Die Haare hingen ihr in Strähnen
um die Wangen. Die Vorhänge waren offen gewesen, und das
perlgraue, dünne Licht der frühen Dämmerung saugte
ihr alle Farbe aus dem Gesicht. Sie starrte ihn wild aus riesigen
Augen an, die etwas anderes zu sehen schienen.
    »Caroline… was, zum Teufel…«
    »Die Karnie-dBase«, sagte sie mit einer solch
ruhigen Stimme, daß ihn ein kalter Schauer überlief.
Die Stimme schien unmöglich zu diesen Augen gehören zu
können. »Robbie.«
    »Was ist mit ihm?« fauchte Joe. Undeutliche Wut
erfüllte ihn: na, was? Er setzte sich mit der Decke um die
Schultern auf. Es war kalt im Zimmer, aber Caroline in ihrer
dünnen Hemdbluse schien es nicht zu bemerken.
    Sie sagte ruhig: »Er ist mein Sohn.«
    »War«, sagte Joe, bevor er wußte, daß
er überhaupt etwas sagen würde. »Wovon du auch
immer redest, verdammt, es heißt >war    Sie schien ihn nicht zu hören. »Mein Kind. Mein
Sohn.«
    Joe stolperte aus dem Bett. Die Decke hatte sich um seine
Beine gewickelt und schleifte hinter ihm her. Er wußte,
daß er lächerlich aussah. Carolines Gesicht machte ihm
Angst. Er blieb dort stehen, wo er die Vorderseite ihres
Terminals sehen konnte. Sie mußte den Ton ganz leise
gestellt haben; im Schlaf hatte er die süßliche Stimme
der dBase nicht gehört. Auf dem Terminal war zu lesen:
     
    GLÜCKWUNSCH! SIE HABEN EINEN GEFÄHRTEN!
    TIMOTHY HENDRICKSON, 1958-1976 A.D.,
    GEBOREN UND GESTORBEN IN WICHITA, KANSAS, USA,
    WO ER AUCH SEIN GANZES LEBEN VERBRACHTE.
    ROBERT ANTHONY BREKKE, GEBOREN 1997,
    GEGENWÄRTIGE POSTANSCHRIFT…
     
    »Caroline«, sagte Joe, »Caroline…«
    »Mein Sohn.«
    »Das ist eine Funktionsstörung im Programm,
Caroline. Es kann gar nicht anders sein.« Sie sah ihn an.
»Tut mir leid, aber es muß so sein. Das ist
unmöglich. Daß von den Milliarden Menschen, die auf
der Erde leben oder gelebt haben, ausgerechnet wir beide ihn in einem früheren Leben gekannt haben
sollen…« Ihm fiel ein, daß er ihr nichts von
seinem eigenen dBase->Glückwunsch< erzählt hatte.
Im perlgrauen Licht sah ihr Gesicht wie Stein aus. Er versuchte
es noch einmal. »Ich weiß, die dBase ist in erster
Linie dazu da, um Gefährten zu finden, aber die Chancen sind
so astronomisch gering… und selbst wenn es wahr wäre
– selbst wenn –, es ist Vergangenheit,
verstehst du? Es ist tot, aus und vorbei. Es zählt nicht
mehr!«
    »Warum schreist du so?«
    »Ich schreie nicht!«
    Caroline stand auf. Sie hatte eine Gänsehaut auf den
Unterarmen. Sie sah ihn gelassen an. »Eine bessere Frage
wäre vielleicht, warum du versuchst, mir das zu vermiesen.
Warum, Joe? Bist du so zerfressen von Eifersucht auf Robbie? Oder
auf mich? Weil du glaubst, ich hätte ein nettes,
privilegiertes, begütertes Leben gehabt, während du
dich zu deinem gegenwärtigen mustergültigen,
gottgegebenen Gipfel der… der konstanten Korrektheit durchkämpfen mußtest? Liegt es
daran?«
    Joe hob seine Schuhe auf. Carolines Stimme wurde höher.
»Oder liegt es daran, daß du’s einfach nicht
ertragen kannst, daß jemand auf eine Art glücklich
ist, die du nicht billigst?«
    Er machte die Tür auf und ging hinaus. Das Licht im Flur
war immer noch auf die gedämpfte Nachtbeleuchtung
eingestellt. In seinem Zimmer war es kalt, aber nicht still. Das
Terminal sagte immer wieder laut und deutlich: »MISTER
MCLAREN, ICH

Weitere Kostenlose Bücher