Schängels Schatten
war sie wieder auf Hochdeutsch umgeschwenkt. Mike mochte den Koblenzer Dialekt nicht besonders, aber er verstand ihn. Und er wusste auch, was ein »Bullewatz« war. Er war einer, da hatte Carola Recht.
Carola bog in das Straßengewirr ein, in dem sich Mike beim Hinweg fast verirrt hätte. »Die Brücke ist neu, oder?«, fragte er.
»Sie wurde 1990 eingeweiht. Sie heißt Kurt-Schumacher-Brücke. Nicht gerade ein architektonischer Glanzpunkt. Und das Todesurteil für die alte romantische Gülser Fähre.« Sie gelangten auf die andere Moselseite, dann ging es an Weinbergen vorbei in Richtung Güls.
»Ich habe im Moselstübchen einen Tisch bestellt«, sagte Carola. »Ich dachte, wenn du nach so langer Zeit nach Koblenz kommst, steht dir der Sinn nach Hausgemachtem. Und vielleicht gefällt’s dir ja auch, in dem Stadtteil zu essen, in dem du aufgewachsen bist.«
Carola lenkte den Wagen auf den Parkplatz, und wie am Burgweg lehnte sie jede Hilfe ab. Während sie den Rollstuhl herausholte, ging Mike die paar Schritte zur Uferstraße.
Es war schon etwas dämmrig; trotzdem konnte er auf der gegenüberliegenden Seite gut den Hang der Karthause erkennen. Die Häuser am Burgweg beschrieben eine diagonale Linie den Berg hinauf. Der Hang darüber, wo es früher nur Felder und Grundstücke mit Obstbäumen gegeben hatte, war mit einer neuen Siedlung zugebaut. Dahinter erhob sich der dunkle, bewaldete Hunsrück, aus dem der Fernmeldeturm auf dem Kühkopf herausragte. Mikes Blick wanderte zum grüngrauen Steilhang über der Mosel hinunter. Ziemlich weit oben war eine helle Stelle zu erkennen. Das war die Felsnase, die wie ein winziger Balkon hervorragte. Wo sie so oft gesessen hatten.
Plötzlich kam Mike eine Idee. Er wandte sich zu Carola um, die im Rollstuhl saß und herangefahren kam. »Du hast das Geld an unserem Geheimplatz versteckt, oder?«, fragte er. »Du bist da oben herumgeklettert, und von hier unten hat dich jemand beobachtet.«
Carola schüttelte den Kopf. »Wieder ganz kalt. Denk nicht so viel darüber nach. Ich schlage vor, wir reden heute nicht mehr darüber. Entscheide dich bis morgen früh. Okay?«
*
Er hat noch einmal überprüft, wie alt die E-Mail ist. Sie ist vor zwei Tagen abgeschickt worden, vielleicht auch vor drei. Der alte Mann rechnet nach und kommt mit der Zeitverschiebung etwas durcheinander.
Nach der ersten Aufregung hat er sich gezwungen, systematisch vorzugehen. So, wie er es gelernt hat, ist er im Internet weiteren Informationen nachgegangen. Vielleicht war das, was in der Mail stand, ja auch eine Lüge. Vielleicht wollte ihn jemand foppen.
Doch dann ist alles ganz leicht gewesen. Das Suchprogramm förderte immer mehr Seiten zutage, die das, was in der Mail steht, beweisen. Und nicht nur das: Das Ganze scheint noch nicht einmal etwas Besonderes zu sein. Vor den Augen der ganzen Welt hat es sich bereits vor Jahren ereignet, und der alte Mann hat es nicht mitbekommen. Warum nicht? Er denkt nach, und ihm fällt ein, dass er zu dieser Zeit im Krankenhaus war. Außerdem hat er noch keinen Internetanschluss gehabt. Und in den hiesigen Zeitungen wurde darüber natürlich nicht berichtet. Der alte Mann spürt einen Schmerz aufsteigen, den er schon lange kennt. Den Schmerz der Missachtung seiner Heldentat. Das Gefühl von Ungerechtigkeit.
Er versucht, das Gefühl zu verdrängen und sich auf das zu konzentrieren, was er da sieht. Es gibt keinen Zweifel. Die Fotografien müssen echt sein. Sie sind in Farbe, und die Menschen, die darauf zu sehen sind, tragen moderne Kleidung. Er ist erschüttert.
Es ist dunkel geworden. Die Zeit vergeht plötzlich sehr schnell. Und Zeit hat er nicht zu verlieren.
*
Mike hatte ein Schnitzel mit Bratkartoffeln auf dem Teller, Carola Sülze mit Kartoffelsalat. Dazu teilten sie sich eine Flasche Gülser Bienengarten. Hinter dem Fenster wurde es langsam dunkel.
»Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich Gülser Wein trinke«, sagte Mike.
Carola nickte. »Mir geht’s genauso.«
»Wir haben uns dafür früher nicht interessiert. Eher für ein gepflegtes Königsbacher.«
»Noch nicht mal dafür«, sagte Carola und schob eine Gabel Sülze in den Mund. Natürlich, dachte Mike. Carola war Vegetarierin gewesen. Alkohol hatte sie auch keinen getrunken. Und heute aß sie Sülze, trank Wein und rauchte.
»Jetzt haben wir so viel von mir gesprochen«, sagte Carola. »Was hast du denn so gemacht in all der Zeit? Du hast dich ganz schön verändert.«
»Wie meinst du
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