Schängels Schatten
beschmierte eine Brötchenhälfte und griff zur Thermos-Kaffeekanne, die auf dem Tisch stand.
Nickenichs Geschrei klang immer noch in seinen Ohren nach. Einen Moment lang war Mike versucht gewesen, dem Kommissar von den Schüssen zu erzählen. Aber hätte er ihm das überhaupt geglaubt? Immerhin musste es ja in seinem Wagen Spuren geben. Das Fenster war kaputt, und wahrscheinlich steckte in seiner Reisetasche eine Patrone. Eine Patrone, die zu einer P 1-Pistole gehörte …
Er sah auf die Uhr: fast halb neun. Noch viel Zeit. Wenn Anita gekommen war, mussten sie als Erstes sein Auto holen. Bei dem Gedanken, nach Oberwerth zurückzukehren, graute ihm.
Als Mike die Kaffeetasse absetzte, bemerkte er, wie jemand den Raum betrat, die Sonnenbrille abnahm und sich suchend umsah. Der Mann trug einen schwarzen Anzug mit schwarzem Hemd, seine dichten Haare waren ebenfalls schwarz. Er hatte sie streng zurückgekämmt und gegelt. Er entdeckte Mike und ging zielstrebig auf ihn zu.
Das Ehepaar am Tisch schmetterte wieder seine Version von »Guten Morgen«, doch der Mann achtete nicht darauf.
»Herr Engel?«, sagte er.
Mike nickte kauend.
»Mein Name ist Dr. Liebmann.« Er sah sich in dem Gewühl um. »Ich würde Sie gern einen Moment sprechen.«
»Vielleicht gibt es einen anderen Tisch«, sagte Mike und wandte ebenfalls suchend den Kopf.
»Draußen wäre besser«, sagte Liebmann.
»Wenn Sie meinen.«
Mike quetschte sich aus seiner Ecke. Liebmann ging vor, und Mike folgte ihm durch die Lobby, an der Rezeption vorbei durch die Glastür nach draußen.
Das war also der Herr Oberregierungsrat. Carolas Ehemann, der Fremdgeher. Der Typ sah gar nicht aus wie ein Beamter. Eher wie ein Dressman. Aber vielleicht hatte sich auf diesem Gebiet ja auch einiges verändert. Wenn der Bundeskanzler schon Werbung für Anzüge machte …
»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte Liebmann, als sie an der Hoteleinfahrt angekommen waren.
Mike nickte.
»Gut. Dann kann ich mir eine lange Einleitung sparen.«
»Was wollen Sie?«, fragte Mike.
»Nichts Besonderes. Ich will nur wissen, wie lange das schon geht.«
»Wie lange was geht?«
»Das mit Carola, was sonst?«
»Wie bitte? Ich habe sie seit über zwanzig Jahren nicht gesehen. Vor ein paar Tagen rief sie mich an und lud mich ein. Ich fuhr hin, wir redeten ein bisschen über alte Zeiten, und plötzlich …«
»… war sie tot. Ich habe die Unterlagen gelesen. Und ich kenne auch Ihre Aussage.«
»Moment mal. Wieso können Sie da einfach Ihre Nase reinstecken? Ist so was überhaupt zulässig?«
Liebmanns harte Gesichtszüge lockerten sich, und er lächelte breit. »Damit Sie im Bilde sind: Ich bin Referent für Polizei- und Strafrecht im Innenministerium. Sie können sich vorstellen, welche Kontakte ich habe. Ich habe mich mit Hauptkommissar Nickenich genauestens verständigt. Und jetzt hätte ich gern von Ihnen eine Erklärung.«
»Ich wüsste nicht, was ich Ihnen zu sagen hätte«, sagte Mike. »Ich habe Carola besucht. Ist das verboten?«
»Ich habe als ihr Ehemann doch ein berechtigtes Interesse zu wissen, ob sie eine andere Beziehung hatte.«
Mike spürte Ärger in sich aufsteigen. »Eine andere Beziehung? Was soll das denn heißen? Was drücken Sie sich eigentlich so geschwollen aus?«
»Wenn Ihnen meine Ausdrucksweise zu elaboriert ist, dann kann ich das verstehen. Ich bin aber auch durchaus in der Lage, mich einfacher auszudrücken. Carola ist fremdgegangen. Und zwar mit Ihnen.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Moment, Moment«, sagte Mike. »Jetzt geht aber ein bisschen was durcheinander.« Er lachte ungläubig. »Sie denken doch nicht im Ernst, dass ich mit Carola was hatte? Ehrlich gesagt – sie hat mir erzählt, dass Sie eine andere haben und dass sie deswegen wieder nach Koblenz gegangen ist.«
»Da hat sie etwas falsch verstanden«, sagte Liebmann. »Es geht Sie nichts an, aber ich sage ganz freimütig: Ich habe Carola sehr geliebt, und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie tot sein soll«, erklärte er in einem Tonfall, als würde er die Nachrichten vorlesen. »Natürlich hat es in unserer Ehe Spannungen gegeben. Und ich bin natürlich auch der Typ, der sich gern mit Frauen trifft.«
»Natürlich.«
»Ich bin ein Mann, verstehen Sie. Und als Mann hat man seine Bedürfnisse. Und wenn einem die Frau die Bedürfnisse nicht befriedigen kann, dann sucht man sich dafür eben eine andere. Aber ich bin Ihnen ja wohl keine Erklärung
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