Schärfentiefe
zurück in die Stadt fuhr und Häuser und Geschäfte an ihr vorüberzogen, dachte sienochmals über ihren, am Nachmittag gefassten Entschluss nach. Es gab für sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie schrieb eine nette Biografie über Stefan Urban, so wie es ihr Auftrag war, oder sie ließ die Bombe platzen und informierte die Öffentlichkeit über ihn, egal, ob die Polizei noch etwas herausfand oder nicht.
Santos Meinung dazu brauchte sie nicht einzuholen. Es war klar, wofür er sich entscheiden würde. Aber hier ging es nicht um ihn, auch nicht um Geld. Es war ausschließlich ihre persönliche Entscheidung.
Durch das Schreiben war ihr vieles klar geworden: Würde sie die gewünschte Biografie schreiben, so wäre das ein Affront gegen alle Personen, denen Urban Schaden zugefügt hatte. Das Motto ihres Vaters „Du sollst nicht lügen, aber du musst nicht immer die ganze Wahrheit sagen“, bekam hier eine neue, krasse Bedeutung.
Würde sie alles Negative, was sie mittlerweile von Urban wusste, verschweigen, also unter den Teppich kehren, würde sie ein völlig falsches Bild von einer Person in den Köpfen der anderen erzeugen, und was war das anderes als lügen? Natürlich würde sie nichts von alldem, was sie in Erfahrung gebracht hatte, für die Biografie verwenden. Zumal solch ein Unterfangen wirkungslos sein würde, weil Santo einfach alles wieder herausstreichen würde. Damit wäre die Sache für ihn und für den Rest der Welt erledigt, weil niemand etwas von Urbans Untaten erfahren würde.
Für Paula stand fest, dass sie den Stein ins Rollen bringen wollte. Das Einfachste wäre, die Polizei darauf aufmerksam zu machen, dass Urban nicht einem Unfall, sondern einem Mord zum Opfer gefallen war. Die polizeilichen Untersuchungen würden dann hoffentlich alles das ans Tageslicht bringen, was auch sie herausgefunden hatte, und die Medien würden den Rest erledigen. Die Öffentlichkeit wüsste dann endlich überden wahren Stefan Urban Bescheid, und die Biografie wäre ad absurdum geführt.
Paula war klar, dass ihr das Honorar für die Biografie, das sie gerade jetzt gut brauchen konnte, durch die Lappen gehen würde, aber das war ihr der Seelenfriede wert.
Bevor sie weitere Schritte unternahm, wollte sie jedoch noch mit Krein sprechen. Schließlich war seine Schwester eines jener Opfer von Urban, dem er anscheinend besonders arg mitgespielt hatte. Im Falle eines Mordverdachts würden die Zeitungen die Vergangenheit Urbans aufleben lassen und damit ziemlich sicher auch den Skandal um Kreins Schwester ausschlachten. Das wollte Paula zuerst mit ihm besprechen. Sie wollte, dass die Wahrheit ans Licht kam, aber nicht, dass jemand einen Schaden erlitt.
Sie war sich ziemlich sicher, dass Krein ihre Idee akzeptieren würde. Es musste für ihn – spät, aber doch – eine Genugtuung sein, wenn die Öffentlichkeit über den wahren Stefan Urban informiert würde. Paula konnte sich gut vorstellen, dass er sein Leben lang darunter gelitten hatte, dass Urban, der seiner Schwester so geschadet hatte, international große Erfolge feierte.
Das Handy riss sie aus ihren Gedanken. Als sie sah, dass Markus anrief, begann ihr Herz schneller zu schlagen. In all dem Chaos und wegen der vielen Wege, die aufgrund des Einbruchs zu erledigen waren, hatte sie vergessen, sich zu überlegen, wie sie ihm gegenüber reagieren sollte, ohne ihm gleich mit dem Bulldozer drüberzufahren. Denn dass er sich melden würde, war klar – er wusste ja nicht, dass sie ihn gesehen hatte. Sollte sie das Gespräch ablehnen? Aber damit war das Problem nicht gelöst. Sie hob ab.
„Hallo, mein Liebling. Wie geht es dir denn? Gehe ich dir schon ab?“, säuselte er.
„Und wie. Es wäre so schön, wenn du da wärst“, säuselte siezurück und ergänzte in Gedanken: Dann würde ich dir eins mit der Pfanne überbraten, du Schweinehund.
„Du gehst mir schon so ab. Ich zähle die Tage bis Silvester.“
„Und wie geht es deiner Familie? Ich meine Weib und Kind?“ Paula war es zu blöd, lang um den heißen Brei herumzureden. Was soll’s, dachte sie und peng, schon ließ sie die imaginäre Bratpfanne auf seinen Kopf donnern.
Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung, dann ein Räuspern.
„Wie meinst du das?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Ach bitte, frag nicht so blöd. Hältst du mich für vertrottelt? Ich habe dich am Schönbrunner Weihnachtsmarkt gesehen, mit Frau und Kind, küssend und knutschend. Ich weiß nicht, was du dir dabei
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