Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
leblosen Körpern bog.«
Aslan schluckte heftig, bevor er weitersprechen konnte.
»Mein Vater hat den Henker auf Knien angebettelt, meinen Bruder herunterschneiden zu dürfen. Doch man verwehrte ihm die Erlaubnis. Erst nach einer Woche durften die Leichen beerdigt werden. Du kannst dir vorstellen, welche Qual dies – neben dem Verlust eines Sohnes – für einen gläubigen Muslim bedeutet. Bei uns muss ein Toter noch vor Sonnenuntergang in die Erde gebracht werden, so verlangt es das Gesetz.«
»Und was war mit dir? Haben sie herausgefunden, dass du etwas mit der Sache zu tun hattest?«
»Nein. Aber das mussten sie auch gar nicht. Unsere ganze Familie wurde verhaftet. Und mich hat man anschließend auserkoren, sie zu |274| retten.« Aslan lachte spöttisch. »Wenn ich nicht tue, was der Zar von mir verlangt, werden sie allesamt elendig in diesem verdammten Kerker vor die Hunde gehen.«
Er schwieg einen Moment, während Leonard darüber nachdachte, dass nicht nur
er
ein Schicksal zu bewältigen hatte, das ihm ein Mehr an Verantwortung abverlangte, als er zu tragen vermochte.
»Ich habe Angst, dass ich den Zaren und seine Schergen enttäuschen werde«, fügte Aslan leise hinzu.
»Mit dieser Furcht bist du nicht alleine«, flüsterte Leonard grimmig. »Lobow verspricht mir seit zwei Jahren, dass er Katja und das Kind in unser Lager nachkommen lässt, wenn unsere Ergebnisse stimmen.« Er kniff die Lippen zusammen, bevor er weitersprach. »Bisher waren wir wohl nicht gut genug.«
»Was schlägst du vor?« Der Turkmene sah ihn mit trüber Miene an.
»Manchmal denke ich, wir sollten den Schamanen um Hilfe bitten. Er weiß soviel mehr über den Gang der Dinge. Du hast mit eigenen Augen gesehen, welches Wunder er an meinem Körper vollbracht hat. Er ist besser als der beste Naturwissenschaftler. Wir erforschen Menschen wie ihn, und wir kommen uns dabei so schlau und erhaben vor. Wir belächeln seine Fähigkeiten und stehen doch wie staunende Kinder vor seinen Mysterien, ohne eine vernünftige Erklärung dafür finden zu können. Es ist auf seine Weise erbärmlich, wie sehr wir uns einreden, die Welt müsse erklärbar sein, und alles andere zählt einfach nicht.«
»Ob du es glaubst oder nicht, die Idee ist mir auch schon gekommen. Ich hänge seit Monaten in meiner Arbeit fest.«
Leonard hatte sich beunruhigt in seinem Bett aufgerichtet. »Ich dachte, wenigstens du kommst mit deinen Versuchen voran. Weinberg lobt dich über den grünen Klee, ohne dass er je etwas über deine genaue Arbeit gesagt hat.«
»Du kennst nur die halbe Wahrheit. Lobow und seine Leute setzen in der Tat große Hoffnungen in mich. Aber hast du eine Ahnung, um was es hier wirklich geht?«
»Wenn du mich so fragst«, flüsterte Leonard und schlug die Decke zurück, um aufzustehen und sich einen Becher Wasser zu holen. Danach setzte er sich zu Aslan aufs Bett, damit er noch leiser sprechen |275| konnte, um die anderen nicht zu wecken. »Ich dachte immer, du experimentierst mit Sprengstoff – Dynamit. Das packen wir dann in das Luftschiff und schicken das Ganze nach Japan, wo mein Automat dafür sorgt, dass die Ladung an einem vorher festgelegten Ort gezündet wird!«
»Ich experimentiere nicht mit Sprengstoff, Leonard. Ich experimentiere mit Uran.«
»Pechblende?« Leonards Stimme klang ungläubig. »Was sollte daran so gefährlich sein?«
»Wenn du es mit schwerem Wasser kombinierst und noch ein paar weitere Kleinigkeiten berücksichtigst, kann es zur gefährlichsten Sache der Welt werden. Das Einzige, was mir bisher fehlt, ist ein hochenergetischer Zünder.«
Leonard schaute auf seinen Becher, bevor er den Inhalt mit einem Schluck hinunterkippte.
»Schweres Wasser«, flüsterte er, nachdem er sich mit dem Ärmel seines Unterhemdes die Lippen abgewischt hatte. »Ist das der Grund, warum man die riesigen Bottiche in der Halle hinter dem Kraftwerk aufgestellt hat?« Leonard fragte sich, was er sonst noch alles nicht wusste. Geheimhaltung hatte im Lager oberste Priorität; jeder durfte nur soviel erfahren, wie es für seine Arbeit erforderlich war.
»Es ist umgekehrt. Das Kraftwerk wurde gebaut, damit es die gewaltigen Strommengen erzeugt, die wir für die Elektrolyse benötigen. Ich beschäftige mich seit ein paar Jahren mit Radioaktivität. Weinberg hat mir die Unterlagen zu Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie von 1905 beschafft.Bereits ab 1897 beobachteten Becquerel und Marie Curie, dass Kernreaktionen sehr viel
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