Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
noch nicht aufgegeben hatten, auf sie zu schießen.
Der Helikopter schwebte durch die dunkle sibirische Nacht. In der Ferne sah man ein Wetterleuchten, das in kurzen Intervallen den Blick auf eine gespenstische Mondlandschaft freigab. Kurz darauf überflogen sie Vanavara. Wie Perlen in einem finsteren Ozean leuchteten die Straßenlaternen für einen Moment auf, bevor sie wieder verschwanden.
»Wo fliegen wir hin?« Viktoria sah zu Leonid hinüber. Das grünliche Licht, das seine markanten Züge maskenhaft wirken ließ, machte die ganze Situation noch viel unwirklicher.
»Krasnojarsk«, sagte er. Dann lächelte er müde. »Wenn man uns lässt. Wir sind jetzt auf einer Sicherheitshöhe von 1000 Metern – das müsste reichen, um nicht versehentlich gegen einen Berg zu prallen. Zudem habe ich auf Autopilot geschaltet. Der Sprit sollte auch reichen.« Leonid schaltete die Innenbeleuchtung ein und studierte ein Handbuch, das offenbar Auskunft über die technischen Daten der Maschine gab. »Sei so gut und schau im Passagierraum nach, ob du dort etwas zum Anziehen für mich findest«, bemerkte er beiläufig.
Wie betäubt schob Viktoria den Hund zur Seite, der sich daraufhin im Fußraum verkroch. Mit unsicherem Blick und hechelnder Zunge verfolgte er jede ihrer Bewegungen, als sie in den rückwärtigen Teil des Großraumhubschraubers vordrang. Zwischen den längs angebrachten Sitzreihen fand sie tatsächlich nicht nur einen dunkelblauen |379| Pullover, der auf Brusthöhe mit einem GazCom-Emblem versehen war, sondern auch eine Cargo-Hose und ein Paar schwarze Springerstiefel der Größe 45. Dazu eine Kiste mit Lebensmitteln, in der sie auf den ersten Blick eine Packung Kekse, eine Flasche Wodka und zwei Flaschen Orangensaft entdeckte. Mit weichen Knien stieg sie zurück ins Cockpit.
»Meine Ausbeute war erfolgreich«, meldete sie mit einem angedeuteten Salut. Leonid nahm die Hand vom Steuer und fasste in ihr langes Haar, als sie nahe genug herangekommen war. Sanft zog er sie zu sich hin und küsste sie ausgiebig. Doch Viktoria konnte den Kuss nicht genießen, weil sie von der Angst beherrscht wurde, er könne trotz Autopilot die Kontrolle über den Helikopter verlieren.
Etwas umständlich half sie Leonid in den engen Pullover. Die Hose war zu groß, und die Schuhe waren eine halbe Nummer zu klein, doch Leonid hatte andere Sorgen.
Aus dem Kopfhörer, den er um den Hals hängen hatte, dröhnten die englischen Anweisungen eines Fluglotsen. Nur der starke russische Akzent war herauszuhören, ansonsten konnte Viktoria nicht verstehen, was gesagt wurde. Routiniert rückte Leonid das Mikrofon mit der rechten Hand näher an seine Lippen heran und antwortete in nicht weniger abgehackten Sätzen, wobei sein Englisch nicht besser war als das des Lotsen. Dabei gab er Position und Höhe an, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre, dass sie mit einem Transporthelikopter von GazCom durch die sibirische Nacht flogen.
»Sie werden uns finden, nicht wahr?« Viktoria bekam vor Angst kaum ein Wort über die Lippen. »Ich meine, die werden doch bemerken, dass wir mit dem Helikopter nicht hier sein sollten, oder?«
Leonid lächelte, um Zuversicht bemüht, und streichelte ihre Wange.
»Solange ich mich als Angehöriger von GazCom ausgebe und Bashtiris Leute es nicht fertigbringen, offizielle Stellen zu informieren, sind wir sicher. Sämtliche Flüge müssen normalerweise bei der Flugsicherheit angemeldet werden, aber bei regierungsnahen Organisationen machen sie schon mal eine Ausnahme. Wenn Bashtiris Leute es nicht schaffen, den Generator in Gang zu bringen, werden sie nicht telefonieren können, und mit dem Wagen braucht man mindestens eine Stunde bis Vanavara.«
|380| Viktoria bemühte sich, durch Leonids Worte neuen Mut zu fassen, doch die Zweifel blieben. »Wie viel Zeit bleibt uns, wenn sie die Luftsicherheit alarmieren?«
Er zuckte mit den Schultern. »Eine Stunde oder zwei. Ich versuche in jedem Fall, bis Krasnojarsk zu fliegen. Das sind etwas mehr als siebenhundert Kilometer. Der Helikopter hat Zusatztanks, anders könnte man die weiten Strecken gar nicht bewältigen.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Lass uns erst einmal ankommen. Dann sehen wir weiter.«
Eine Weile sagte niemand etwas, und das Geräusch des Rotors wirkte beinahe einschläfernd. Viktoria beobachtete Leonid, wie er die Instrumente überprüfte und sich offensichtlich mit der Navigation beschäftigte. Als er den Kopfhörer für einen Moment
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