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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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bedeckte es mit seinem Körper. Dann war er plötzlich still und rührte sich nicht mehr.
    »Er hat seinen Körper verlassen«, wisperte Tschirin, »um zu den Ahnen Kontakt aufzunehmen und sich mit der Seele des Kindes zu verbinden.«
    Der alte Wassiljoff war halb aufgesprungen, doch ein paar der Deportierten hielten ihn eisern zurück. Instinktiv erfassten sie wohl, dass dem Jungen kaum noch anders zu helfen war. Nach einer Ewigkeit hob sich der Kopf des Schamanen, und sein Mund senkte sich auf die Beinverletzung des Jungen.
    Kissanka und einige Frauen hielten den Atem an, während die Kosaken nach ihren Säbeln griffen.
    Die Sprache des Schamanen war nicht zu verstehen – ein Raunen, ein Glucksen, ein Kichern und ein Heulen in abwechselnder Reihenfolge, wie eine Kette aus verschiedenen Perlen. Der Gehilfe warf weiteres Pulver in die Glut, bis die Funken bläulich sprühten und einen gespenstischen Lichtschein auf sämtliche Gesichter der Anwesenden warfen.
    »Schluss jetzt!«, brüllte Wassiljoff mit glasigen Augen. »Ich will, dass ihr meinen Sohn in Ruhe lasst und euer heidnisches Spiel beendet!«
    Der Schamane blickte mit undurchdringlicher Miene auf. Es herrschte Totenstille. Selbst Wassiljoff hatte es plötzlich die Sprache verschlagen, als der Mann sich langsam erhob und dann wie eine Raubtier mit einer fließenden Bewegung auf ihn zu schlich. Er flüsterte unentwegt, und seine Stimme hatte einen unwirklichen Tonfall angenommen. Scheppernd und mit einem seltsamen Echo, wie aus einer anderen Welt, begann er zu sprechen. Den Blick hielt er dabei nicht auf Wassiljoff gerichtet, sondern auf Subbota, der neben ihm hockte. Leonard konnte |123| sehen, wie der Offizier unter seinen Mantel fasste, dorthin, wo der Revolver saß.
    »Nētelălwe«, fauchte der Schamane, und seine Augen leuchteten bedrohlich in der herabbrennenden Glut des Feuers.
    »Was hat er gesagt?« Pjotr warf Tschirin einen beunruhigten Blick zu.
    »Er hat euren Offizier als Taugenichts beschimpft«, flüsterte Tschirin kaum hörbar. Man konnte sehen, dass ihn der Ausfall des Schamanen regelrecht ängstigte.
    Die Stimme des Schamanen steigerte sich in ein heiseres Flüstern.
    »Lōlekeldu … Xerūnil … tūye lokūčäăären … Toyō … Tjanăäčöwč? … Edikon d’ǖša … Xūltond … Xūydonelin … xămirăldu …«
    »Nun sag schon, was will er von Subbota.« Aslan konnte sich vor Neugierde kaum noch halten, während nicht nur Subbota wie gebannt auf den Mann starrte, der sich wie ein Dämon vor ihm aufgebaut hatte.
    »Er sagt, er soll sich fürchten. Blitze werden kommen und Feuer sprühen … Er und all die anderen Männer sollen platt gedrückt daliegen.« Tschirin war anzusehen, wie schwer ihm die weitere Übersetzung fiel. »Er fragt, ob er und seine Leute wahnsinnig geworden sind, und spricht von Wind und Wetterleuchten … und dass die Echogeister widerhallen … dann beginnt das Blut zu strömen …«
    Leonard entging nicht, das Tschirin aufgeregt schluckte.
    Der Schamane zog sich langsam zurück. Wie eine Katze mit aufgerichtetem Buckel schlich er rückwärts hinter das Feuer, an dem Jungen vorbei bis zum Ausgang. Bevor er das Zelt verließ, warf er einen unvermittelten, mit Zorn erfüllten Blick auf Leonard und seine beiden Mitgefangenen.
    »Ketōvwaren!«, zischte er.
    Ein Raunen ging durch die Reihen. Doch seltsamerweise griff niemand zu den Waffen. Selbst die Kosaken schienen wie erstarrt.
    »Das war bestimmt keine Einladung zu einem weiteren Besuch«, bemerkte Aslan in einem lakonischen Tonfall.
    »Was wollte er uns sagen?« Leonard nahm erneut Tschirin in die Pflicht.
    »Es ist ein Fluch. Er sagte, ihr sollt zurückweichen, solange ihr noch könnt, und dass seine Worte euch eine Lehre sein sollen.«
    |124| »Wer ist dieser Spinner?« Pjotr versuchte sich gleichfalls an einem beschwichtigenden Lächeln, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen.
    »Er ist Tschutschana, einer der mächtigsten Schamanen, die unsere Sippe je hervorgebracht hat.«
    »Und du glaubst tatsächlich, was er sagt?« Aslan grinste hämisch.
    Tschirin senkte den Blick. Offenbar empfand er die Frage des jungen Russen als Beleidigung.
    Selbst als er wieder aufschaute, vermied er es, Aslan und seinen Kameraden ins Antlitz zu sehen. »Ich zolle ihm meinen allergrößten Respekt – nicht nur weil er zu den wirklich großen Schamanen Sibiriens zählt.« Er hob den Kopf und setzte eine stolze Miene auf. »Zudem ist er mein Vater.«
    »Seht nur!«

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