Schartz, S: Elfenzeit 20: Der Atem der Unsterblichkeit
»Das ist doch … grotesk!«
»Durchaus. Doch er ist, der er ist, Nadja. Nicht das, was wir gut nennen würden, aber auch nicht böse. Er steht außerhalb der menschlichen Moralvorstellungen, ist fremder als jedes andere Lebewesen der Welten. Er verfolgt seine Ziele zur Erfüllung seiner Aufgabe um jeden Preis. Und er dient dem Leben dieser Welt schon sehr, sehr lange. Ich … war dafür ausersehen, sein Werk während seiner Abwesenheit fortzusetzen. Dort zu sein, wo ich gebraucht werde. Den Weg der Menschen zu begleiten, von Anfang an. Damit ihr nie allein seid.«
»So wie jetzt«, sagte sie sarkastisch und gab die formelle Anrede auf. Wozu noch, am Ende aller Zeit und Welten? Sie spürte, wie ihre Finger abrutschten, und stemmte sich hastig gegen die Wände. »Nett, dass du mich unterhältst, wenn du mir schon nicht helfen willst.«
Merlin lächelte. »Aber ich werde dir helfen, deswegen bin ich doch hier. Alles zu seiner Zeit. Augenblicklich kann ich nichts tun. Nur ein bisschen Geduld …«
»Und dann?«
»Lass dich überraschen. Hier endet mein Weg.«
Das meinte der Magier hoffentlich nicht ernst. »Aber du hast deine Tochter gerade erst gefunden, und deine Frau …« Schweiß rann in Nadjas Augen, der wie Feuer brannte, und sie blinzelte heftig.
»Eine wunderbare Zeit, dank der königlichen Crain-Zwillinge, die so lange dauerte, wie sie eben dauerte. Aber hier endet meine Aufgabe. Du hast mich hierher geführt, ans Ende und an den Anfang.«
»Ich? Du bist ja wie ein Elf: charmant, aber verlogen. Ich war das nicht. Sondern
er!
«
Der Zauberer lachte leise. »Am Ende erhält der Mensch die Erkenntnis. Auch Alebin, der unter euch Menschen aufwuchs, erging es zuletzt so. Er begriff, dass du die wahre Auserwählte bist, nicht er oder gar Artus. Viele verschlungene Wege führten mich oft in die Irre, doch sie wiesen letztendlich zu dir. Ich hätte nur nie gedacht, dass mein Weg so weit führen würde. Und dass ich dir nach all der Zeit doch noch begegne … dem Höhepunkt meines Wirkens. Dabei sollte es umgekehrt sein: Ich sollte die Welten halten und du … mich erlösen. So war es zumindest geplant.«
»Na super.« Nadja keuchte. »Und weswegen hänge ich dann hier fest?«
»Weil du meinen Vater verärgert hast. Du wolltest alles aufgeben, ausgerechnet im wichtigsten aller Momente. Als nur noch ein Schritt für dich zu tun war, während ich mich schon auf den Weg machte. Wenn mein Vater etwas nicht ausstehen kann, dann ist es die Selbstaufgabe – er ist machtlos, wenn man sich ihm endgültig verweigert. Da wird er sehr wütend. Wenn er wütend ist, kennt er keine Gnade mehr, im besten Falle tötet er, im schlimmsten bestraft er. Und ich weiß, wovon ich spreche. Lange genug saß auch ich fest und musste dafür büßen …«
Nadja wusste, worauf er anspielte. »Dann … war es gar nicht Vivianes Bann, der dich einsperrte?«
»Sie sprach den Bann aus, doch es war seiner, ja. Er hat sie benutzt. Typisch für ihn, anstatt ein klärendes Vater-Sohn-Gespräch zu führen. Aber wir haben ja nie viel miteinander geredet, er und ich.« Merlin hob leicht die Arme. »Und warum kam es dazu? Ich war müde geworden, so unendlich müde.« Für einen Moment nahm er die Gestalt des weißhaarigen, langbärtigen Zauberers an, wie ihn die Menschen aus den Legendendarstellungen kannten. »Wenn man der Sohn des Getreuen ist, kann man sich nicht einfach dazu entscheiden, zu sterben, zu vergehen. Vor allem darf man sich nicht zur Ruhe setzen und sein Herz verschenken. Diese Lektion war die bitterste meines Lebens.«
Nadja empfand Mitleid. »Erzähl es mir jetzt, Merlin. Wann bist du wirklich entstanden?«, fragte sie leise.
»Irgendwann vor der Steinzeit«, gab Merlin Antwort. »Die ersten Tuatha betraten die Welt, und unter ihnen war eine Frau, die meine Mutter wurde. Sie war mehr Göttin als Mensch, wie so viele ihrer Art damals. Erst nach und nach wandelten sich die einen durch die Verbindung mit den bereits existierenden Urmenschen immer mehr zu den heutigen Menschen, während die anderen zu Elfen wurden, aus denen später Fanmór, Manannan und wie sie alle heißen hervorgingen. Unsterbliche Magie oder Seele – das war die Entscheidung, die das Urvolk treffen musste, bevor es sich spaltete. Diejenigen, die keine Verbindung mit den Urmenschen eingingen, aber dennoch den Weg der Unsterblichkeit beschritten, fanden andere Affinitäten – Tiere, Pflanzen, auch Elemente. So entstand die große Vielfalt, wobei die
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