Schatten der Vergangenheit (German Edition)
die Türen. Die Pferde waren süchtig nach den Pfefferminzsüßigkeiten.
„Ihr seid richtige argentinische Wilde“, hörte Philippe seinen Stiefvater sagen.
Das hatte ihm noch gefehlt, dass Henry ihn in Tränen aufgelöst sah und dreckig wie einen Stalljungen. Er sah auf seine schmutzige Hose herunter. Was sollte es? Sein Ziehvater erwartete nichts anderes von ihm. Er drehte sich halb um. Das Pony stupste seine Hand an und wollte noch etwas zu Naschen.
Henry hatte sich verändert. Er hatte in den letzten Monaten mindestens dreißig Kilogramm Gewicht verloren und dunkle Schatten unter den Augen. Seine einst dunklen Haare waren weißer und er wirkte krank. Philippe hatte das nicht erwartet. Er hatte vieles erwartet, aber keinen kranken oder leidenden Vater, der ihm Leid tat.
„Hallo Philippe.“ Sein Vater kam auf ihn zu. Er trug seine übliche Freizeitkleidung, ein weißes Hemd, eine dunkle Leinenhose und feste Schuhe. Das alles natürlich von seinem Schneider aus der Seville Row und die Schuhe waren maßgefertigt, von dem gleichen Schuhmacher, zu dem schon sein Großvater ging – und wenn Philippe nachdachte, so fanden sich auch in seinen vollen Schränken Schuhe von diesem Nobelschuster.
Henry brach es beinahe das Herz, als er schließlich seinen Sohn sah. Eigentlich sollte er sich an das Aussehen seines Sohnes als sein eigenes Fleisch und Blut gewöhnt haben. Eigene Kinder fand man immer schön, auch wenn sie es vielleicht nicht wirklich waren, aber sein Sohn war es. Jedoch in diesem Moment, wo er ihn nach dieser langen Zeit wieder persönlich sah, fragte er sich wieder, ob das wirklich sein leiblicher Sohn war.
Gut, er hatte das kantige Kinn von ihm, aber das hatten andere Männer auch. Er war eindeutig der Sohn von Catarina, darüber täuschte nichts hinweg, aber sonst? Wo war der Einfluss seiner eigenen Vorfahren? War die hedonistische Lebensweise das einzige, das Philippe von seinen väterlichen Ahnen hatte? Warum sah er nur zu Boden, mit hängenden Schultern?
Die hellgraue Hose war voll mit Abdrücken von Hundepfoten. Die langen, schwarzblauen Haare mit den leichten Locken zerrauft, so als hätte er sie ständig mit den Fingern durchkämt. Das war nicht der sonst so perfekt gekleidete Sohn, der länger im Bad benötigte als manche Frau.
„Philippe?“ Was war mit ihm los? Nahm Philippe wieder Drogen? Das hätte noch gefehlt. Er würde sich das nie verzeihen.
Langsam sah Philippe nach oben. Er blickte gerade aus. Dieser langsame Augenaufschlag mit diesen langen, schwarzen Wimpern brachte weibliche Wesen – und leider auch sehr viele männliche, wie Henry wusste – rasendes Herzklopfen.
Mein Gott, dachte er, all die Sauferei, die Hurerei, die langen Nächte, nichts konnte dieser perfekten Schönheit seines Sohnes etwas anhaben. Wäre es nicht besser, wenn er nicht damit gesegnet worden wäre? Wäre sein Leben nicht anders verlaufen? Aber konnte er wirklich seinem Sohn ein anderes Aussehen wünschen? Ja, wenn er damit glücklicher wäre, und nur ein Idiot konnte nicht sehen, dass sein Sohn tief unglücklich war.
Er machte einen Schritt auf seinen Sohn zu und blieb knapp vor ihm stehen.
„Ach Phil“, flüsterte er und strich seinem Sohn vorsichtig und zögernd über die dichten, samtigen Haare.
Er roch nach Pferden und Hunden – und noch ein klein wenig nach diesem teuren After Shave, das er immer in Paris kaufte, wo eine kleine Flasche soviel wie ein halber Parfümladen einer anderen Marke kostete. Aber nicht nach Alkohol, das überraschte Henry, der es anders erwartet hatte.
„Papa“, murmelte Philippe und legte die Arme um den Körper seines Vaters. Jetzt war ihm wirklich zum Heulen und er schluckte die Tränen hinunter. Was würde sein Vater denken, wenn er wie ein kleines Mädchen heulen würde? Und er war nicht sein Vater oder doch?
„Es tut mir Leid, Phil. Ich wollte das alles nicht. Ich war einfach so enttäuscht“, flüsterte Henry. Er konnte die Vergangenheit nicht ändern. Henry, sein Erstgeborener war tot und Philippe sein einziger Sohn. Catarina hatte Recht, er konnte Philippe nicht auch noch verlieren.
Henry wischte mit einem Zeigefinger eine Träne von der Wange seines Sohnes. Es war das erste Mal seit vielen Jahren. Philippe konnte sich nicht mal erinnern, dass sein Vater ihm gegenüber jemals so etwas wie eine väterliche Zuneigung gezeigt hatte. Gab es für sie beide noch Hoffnung? Was sollte er nur tun.
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