Schatten Der Versuchung
gegenüberstehen, zögern sogar wir Jäger. Und bei einem so erfahrenen Jäger, wie es dein Bruder ist, zu zögern, kommt einem Todesurteil gleich. Du kannst dir kein Mitleid leisten. Du kannst dir nicht leisten, auf seine Rettung zu hoffen. Für ihn gibt es keine Rettung.«
»Woher willst du das wissen? Hat jemand von euch schon mal versucht, einen Vampir zu heilen ? Ist der Versuch jemals unternommen worden?« Natalya wusste, dass reine Verzweiflung aus ihr sprach, aber sie konnte einfach nicht lockerlassen. Es musste eine Möglichkeit geben, ihren Bruder zu retten. Wenn Razvans Opfer, die er ihr zuliebe gebracht hatte, zu seinem Niedergang geführt hatten, trug sie die Verantwortung. Er war für sie da gewesen, als sie ihn gebraucht hatte; jetzt musste sie eine Lösung finden.
Vampire waren durch und durch schlecht. Natalya hatte ihre Verkommenheit gesehen, ihre Freude am Töten. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Razvan diesen Weg gewählt hatte. Dass er freiwillig zu dem geworden war, was sie beide ihr Leben lang bekämpft hatten.
Vikirnoff sah, wie sie mit sich rang, um die Last der Schuldgefühle, der Furcht und des Ekels abzuschütteln. Sie wollte keine Angst vor ihrem Bruder haben. Sie wollte ihn nicht verachten und verabscheuen.
Vikirnoff ließ Natalya widerstrebend los, als sie sich aus seinem Griff löste. Ihm blutete das Herz, als er zusah, wie sie rastlos in dem kleinen Wasserbecken hin und her schwamm. Er konnte nicht lügen oder die Wahrheit beschönigen. Dafür hatte er zu viel Achtung vor ihr. Wenn sie sich auf die Suche nach dem Buch machten, würde man ihnen folgen. Und sie mussten das Buch suchen. Er wusste es, und tief in ihrem Inneren wusste Natalya es auch. Früher oder später würde das Buch wieder auftauchen, vielleicht sogar in einem anderen Jahrhundert, wenn die Erinnerungen daran verblasst waren. Es war viel zu gefährlich, um etwas dem Zufall zu überlassen.
Vikirnoff rieb sich das Gesicht. Ihm graute bei dem Gedanken, was vor ihnen lag. Natalya war eine außergewöhnliche Frau, aber eine, die er nicht erwartet hatte, eine, von der er nie gedacht hätte, dass er sie sich wünschen würde. Aber warum hatte er sich unter seiner Gefährtin eigentlich eine gefügige, sanftmütige Frau vorgestellt? Natalya würde immer an seiner Seite stehen. Er konnte sich sein Leben nicht mehr ohne ihre scharfe Zunge oder ihren schrägen Sinn für Humor vorstellen.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er sie beim Schwimmen beobachtete. Die winzigen Tropfen, die auf ihrer Stirn standen, stammten nicht vom Wasser des Beckens, und das war schmerzlich. Funktioniert der Fernseher in deinem Zimmer im Gasthaus eigentlich? Er gebrauchte bewusst die intimere Form der Kommunikation, weil er ihr das Gefühl geben wollte, ihr ganz nahe zu sein.
Sie hielt abrupt inne und warf ihre Haare nach hinten, sodass Wassertropfen in alle Richtungen spritzten. Nachdem sie ein paar Mal geblinzelt hatte, um wieder klar sehen zu können, nickte sie. »Warum fragst du?«
»Die Hälfte von dem, was du sagst, ergibt für mich keinen Sinn. Wenn wir richtig miteinander kommunizieren wollen, muss ich mir wohl die Spätfilme anschauen.«
Sie bespritzte ihn mit einem Schwall Wasser. »Sag das nicht so, als müsstest du auf eine Beerdigung gehen! Spätfilme machen Spaß. Spaß. Weißt du überhaupt, was man darunter versteht?«
Da war er wieder, dieser herzzerreißende Unterton von Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie lächelte ihn tapfer an, aber ihre Augen waren dunkel vor Kummer. Vikirnoff watete zu ihr, ohne den Blick von ihr zu wenden. Alles Geblödel der Welt konnte diesen Kummer nicht auslöschen. Alle Liebe der Welt würde nichts daran ändern. Alles, was er tun konnte, war, sie an sich zu ziehen, ganz dicht an sein Herz. Und ihr die volle Wahrheit zu sagen. Sie sollte ihn so sehen, wie er wirklich war. Es war ein Risiko, das er nur ungern einging. Ihre Beziehung war noch sehr zerbrechlich, und er schien ständig die falschen Entscheidungen zu treffen.
Vikirnoff spürte eindringlicher denn je das Blut, das in seinem Körper floss und von seiner Schande zeugte. »Ich weiß nicht, ob Razvan sich freiwillig entschlossen hat, sich der dunklen Seite zuzuwenden, Natalya.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst. Er muss ein Vampir sein. Oder zumindest ihr Verbündeter. Und bedeutet das etwa nicht, dass er auf die dunkle Seite gewechselt hat?«
Vikirnoff hörte seinen Herzschlag so laut in seinen Ohren dröhnen, als
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