Schatten Des Dschungels
bald wie möglich«, sagt er, seine Stimme klingt beunruhigt. »Hast du schon jemanden angerufen wegen dieser Krankheit?«
»Nein«, muss ich zugeben.
»Ist vielleicht besser so. Ich habe die Dateien zu mir rüberkopiert und angeschaut, jedenfalls die, die nicht passwortgeschützt waren. Die ganze Sache ist richtig übel, und wenn du deswegen verhaftet wirst, hast du ein Problem. Dann kann es Monate oder Jahre dauern, bis du wieder aus Südamerika rauskommst, und außerdem reden wir hier über eine Kaution im Hunderttausend-Dollar-Bereich.«
Uff. Der Schreck fährt mir in den Magen. So viel Geld hat meine Familie nicht. »Du meinst, wir sollten das besser in Deutschland regeln? Die Menschen von dort aus warnen?«
»Ja. Und ich komme mit.«
Ich bin verblüfft. »Du willst … aber was ist mit …?«
»Es ist ja nicht meine einzige Gelegenheit, im Regenwald zu forschen, da ergibt sich schon mal wieder was.« Er klingt ein bisschen verlegen. »Meinen Kollegen sage ich etwas von einem Notfall in meiner Familie daheim.«
»Wieso willst du das machen? All das? Du kennst mich doch kaum.«
Schweigen in der Dunkelheit. Schließlich sagt Andy: »Ich glaube, es wäre unfair, dich mit dieser Sache alleinzulassen. Du wirst alle Hilfe brauchen, die du kriegen kannst.«
Allmählich habe ich ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber. Ich erinnere mich noch ziemlich genau daran, was bei unserer letzten Begegnung passiert ist und was ich ihm alles an den Kopf geworfen habe, bevor ich aus dem Labor gestürmt bin. So hundertprozentig nett war ich vorher auch nicht zu ihm.
»Du, Andy …«
»Was?«
»Entschuldigung.«
»Wofür denn?«
»Bisher hast du jedes Mal, wenn du mir die Wahrheit gesagt hast, mehr oder weniger eine geknallt gekriegt.«
»Aber nur verbal.«
»Ist trotzdem nicht so angenehm.«
»Schon okay. Reiß mir das nächste Mal nicht gleich den Kopf ab.«
»Okay. Ich kann eh kein Blut sehen.«
»Fein. Ich auch nicht. Dann wär das ja geklärt.«
Es ist für Andy nicht ganz so leicht, sich aus dem Team loszueisen, aber schließlich entscheidet sich Dr. Abraham, seine Geschichte zu glauben oder zumindest so zu tun. Aber offenbar ist sie froh, mich – die nervige Umweltschützerin – loszuwerden.
Wie recht Andy hat damit, dass ich Unterstützung brauche, merke ich zwei Tage später in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Mühsam habe ich mich zur richtigen Bank durchgefragt, eine Stunde in Spanisch mit dem Schalterbeamten diskutiert, dann konnte ich endlich das Geld mitnehmen, das meine Eltern mir überwiesen haben. Jetzt stehen wir in einer Shopping Mall, die enttäuschenderweise fast genauso aussieht wie irgendeine in München, um mir wenigstens noch einen Rucksack, eine Jeans und ein T-Shirt zu kaufen. In der Kabine wandert ein grüner Laserstrahl über meinen nackten Körper, erfasst meine neuen Maße, ich bin immer noch magerer als vorher. Während ich – wieder angezogen – auf die Jeans warte, probiert Andy völlig fasziniert eine Basecap mit integrierter Kopfhautanalyse-Funktion an. »Du hast sie ja nicht mehr alle«, sage ich zu ihm. »Wahrscheinlich besitzt du auch einen dieser bescheuerten Kühlschränke mit Internetanschluss, die automatisch Essen ordern.«
»Ja«, muss er zugeben und hängt die Cap zurück. »Aber wir haben die Funktion abgeschaltet, nachdem er mal versehentlich dreißig Waldfruchtjoghurts nachbestellt hat. Wir haben das Zeug noch wochenlang gegessen.«
»Magst du wenigstens Waldfrüchte?«
»Nö.« Andy grinst mich an und sieht mit seinem Dreitagebart und dem großen Trekking-Rucksack fast wie ein echter Dschungelkrieger aus. Aber nur fast. Seine Locken wirken einfach zu niedlich.
Ein klappriges Taxi bringt uns zum Flughafen, und wir gehen zum Schalter der Airline, damit Andy sein Gepäck einchecken kann – die wenigen Dinge, die ich dabeihabe, kann ich mit an Bord nehmen. Doch während wir die große Terminal-Halle mit dem blank polierten weißen Steinboden durchqueren, werde ich immer unruhiger. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich fühle mich hier ganz und gar nicht wohl. Liegt es an diesem riesigen Terminal, das so leer und kalt wirkt im Vergleich zum Regenwald? Habe ich endgültig verlernt, mich an die Stadt anzupassen? Wahrscheinlich. Nach der grünen Einsamkeit des Dschungels hat sich besonders die Innenstadt von Caracas angefühlt wie eine Attacke auf alle Sinne. Wie ein bunter, lärmender Wirbelsturm, vor dem ich mich am liebsten irgendwo versteckt hätte.
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