Schatten Des Dschungels
anstarren, beachtet er einfach nicht. Ich muss dauernd kichern, aber eigentlich fühle ich mich großartig. Den frostigen Herbstwind, der um meine nackten Beine streicht, spüre ich kaum.
Im »Ysenegger« sind wir der Hit. Alle glotzen, aber wir tun so, als sei alles wie sonst, und bestellen bei der breit grinsenden Bedienung eine Apfelschorle. Ich binde schnell den Gürtel meines Bademantels neu, dann heben wir unser Glas. »Auf die Freiheit!«, sagt Falk, als wir anstoßen, und trotzig wiederhole ich es. »Auf die Freiheit!«
Keine Ahnung, ob diese Übung etwas mit Mut zu tun hatte, aber sie hat Spaß gemacht. Zum Glück können Bademäntel ja auch nicht petzen, und mein Vater merkt am nächsten Morgen nicht, dass seiner einen kleinen Ausflug hinter sich hat.
Am nächsten Tag mailt mir Falk die Autobiografie des Greenpeace-Gründers David McTaggart und ein altes Buch von Henry David Thoreau über zivilen Ungehorsam, ich habe beides in einer Nacht durch. Statt Krimis und Reiseberichten lese ich auf einmal Gandhi und Martin Luther King und frage mich, warum zum Teufel wir so etwas nicht mal im Unterricht durchnehmen. Vielleicht sollte ich ein Projekt dazu vorschlagen – aber ich bezweifele stark, dass meine Lehrer das gut finden würden. Denn diese Waffe kann nach hinten losgehen.
Ein paar Tage später blickt mich Falk forschend an und fragt: »Gibt es etwas, worüber du dich schon immer geärgert hast, was du bisher immer runtergeschluckt hast?«
Ich muss nicht lange nachdenken. »O ja. So was gibt’s.«
Am gleichen Nachmittag stellen wir unsere Räder an einem der Seiteneingänge des Nymphenburger Parks ab, ziehen die schmiedeeiserne Tür auf und gehen hindurch. Über uns wölben die großen alten Bäume ihre Zweige, der Himmel ist von einem rauchigen Graublau. Es hat vor Kurzem geregnet, und der Wald riecht gut, nach feuchter Erde und Blättern, so herrlich lebendig. Wenn ich die Augen schließe, ist es, als wäre ich wieder in der Waldschule, und auf einmal fühlt sich mein Herz tonnenschwer an. Hätte ich mich weigern sollen, die Schule zu wechseln, damals, als mein Vater mich auf der International Academy angemeldet hat? Nein. Das wäre keine Lösung gewesen. Auf der Waldschule hätte ich keinen höheren Schulabschluss machen können und ich will irgendwann mal studieren.
Unsere Schuhe knirschen auf den kleinen Steinchen, als wir ein Stück den Weg entlanggehen. Schon bald kommen wir zu einem dieser Verbotsschilder – die gibt es hier überall und ich hasse sie alle. Nicht erlaubt. Verboten. Strengstens untersagt!
»Aha«, sagt Falk. »Ich verstehe. So was nervt mich auch immer.«
Ein kurzer Blick in die Runde – keiner da. Rasch hole ich die Haftfolie, die ich daheim vorbereitet habe, aus meinem Rucksack und klebe sie über das Schild. Es sieht fast so aus wie zuvor, sogar die Schrift ist gleich. Nur steht jetzt Bitte Wege verlassen darauf.
»Solchen Aufforderungen muss man einfach folgen«, sagt Falk fröhlich.
Dann biegen wir schräg vom Weg ab und gehen Seite an Seite davon. Mitten über den Rasen.
Homo egoisticus
Es ist noch nicht mal zehn Tage her, dass Falk bei uns im Büro von Living Earth aufgetaucht ist, und schon so viel hat sich in meinem Leben verändert. Ich schwebe durch die Korridore der International Academy, lasse allen Alltagsärger an mir abperlen und lächele jeden an, der mir begegnet. Wahrscheinlich wirke ich total schwachsinnig.
Nicht alle freuen sich darüber, dass es mir so gut geht. Lena-Marie und Sarah schauen mich in letzter Zeit seltsam von der Seite an. Irgendwann werden sie mich darauf ansprechen, was los ist, und als wir bei einem »Carrot Mob« mitmachen, ist es so weit. Wir und ein paar Hundert andere Leute haben uns über Facebook dazu verabredet, zu einer bestimmten Uhrzeit in einem bestimmten Lebensmittelgeschäft einzukaufen, als Belohnung dafür, dass der Besitzer für den Strombedarf des Ladens eine kleine Windkraftanlage installiert hat. Als wir an der Kasse stehen, fragt mich Sarah plötzlich: »Sag mal, läuft da was zwischen Falk und dir?«
»Vielleicht.« Ich zucke ein bisschen verlegen mit den Schultern und lächele.
»Vielleicht? Was soll denn das heißen?« Sarah zieht die Augenbrauen hoch.
»Habt ihr euch schon geküsst?«, hakt Lena-Marie nach.
»Ich glaube, das ist meine Sache«, blocke ich freundlich ab, und jetzt ist es Lena-Marie, die verlegen wirkt. »Entschuldige, ich wollte nicht …«
»Schon okay«, sage ich und zum Glück bohrt
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