Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
Minuten und Sekunden, wenn du von seinem Scheitel aus einen Kreisbogen ziehst, der von seinen Schenkeln begrenzt wird. Und denke dir, dass von dem Punkt, an dem der Kreisbogen den einen Schenkel schneidet, ein Lot auf den andern Schenkel gefällt wird. Wenn du die Länge dieses Lotes durch den Radius des Kreises dividierst, erhältst du den Dschaib – und das ist eine Zahl, die immer dieselbe bleibt, ganz gleich, ob du den Radius größer oder kleiner nimmst, und die also den Winkel genau bestimmt. Kannst du dir das vorstellen, oder soll ich es dir aufzeichnen?« Gewiss, ich konnte es mir vorstellen. Doch ließ ich ihn Papier und Schreibrohr bringen, denn während er damit beschäftigt war, hatte ich Zeit, meine Gedanken wandern zu lassen.
Beeinflusst nicht die Sternkonstellation, die in der Geburtsstunde eines Menschen gegeben ist, auch dessen Schicksal? Lehrt nicht Galenus, dass der Mars und die Sonne das Fieber verursachen, Schlaflosigkeit, Hitze und Durst, Saturn und Merkur hingegen alles, was abzehrt und kältet? So dass der Patient von Geburt an für gewisse Krankheiten anfällig ist und die erwünschte Wirkung der Heilmittel nur erfolgen kann, wenn sie zu der Zeit verabreicht werden, die mit seinen Gestirnen in Einklang stehen?
Wo aber gab es Tabellen, von denen abzulesen wäre, zu welchen Zeiten welches Medikament was für Kranken die Heilung bringt? Mir war keine bekannt.
Ali Kuschtschi war mit seiner Zeichnung fertig, ich warf aber nur einen Blick darauf und entwickelte ihm dann meine eigenen Gedanken. Da rief er aus: »Das hat Allah dir eingegeben, o du Begnadeter! Mache du deine Beobachtungen wie wir die unsern, trage sie ein in Tabellen, wie noch niemand sie verfertigt hat, und es wird sich herausstellen, wie sie zum Heil der Menschheit angewandt werden können!«
Ahnte ich, als ich diese Arbeit anfing, wie unabsehbar sie war? Nein, ich fragte nicht danach, sondern ich begann: Wenn ich Heilkräuter sammelte, schrieb ich die Stunden auf, zu denen ich sie gepflückt hatte, dann die, zu denen ich sie verabreichte, dann Tag und Ort der Geburt der betreffenden Kranken. Ali Kuschtschi sagte mir alle die darauf bezüglichen Gestirnkonstellationen, und meine Bücher füllten sich.
Manchmal, wenn ich die Aufzeichnungen durchsah, packte mich ein Schwindel: Was ließ sich ablesen aus ihnen, was folgern? Doch wenn ich mutlos zu werden begann, tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass auch die Astronomen erst durch unzählige, unermüdliche Beobachtungen sich die Grundlage für ihre Berechnungen hatten schaffen können, ja dass jahrtausendealtes Bemühen zu den jetzt vorliegenden so bewundernswerten Ergebnissen geführt hatte. Und noch ein Zweiter spornte mich an: Wenn Ulug Beg dem Ptolemäus Ungenauigkeiten hatte nachweisen können, wäre es nicht an der Zeit, auch den Galenus zu überprüfen? War der denn unfehlbar? Das ist doch der allmächtige Gott allein! Diese Gedanken packten mich wie ein Rausch. Und sie waren ansteckend. Eine Schar junger Menschen sammelte sich um mich, auf die sich mein Wissensdurst übertrug. Sie schweiften durch Feld und Wiesen, sammelten Heilkräuter aller Arten, halfen mir beim Zubereiten der Tränke und Salben, halfen vor allem beim Aufstellen meines Kataloges. Besonders unermüdlich war darin ein junger Mann, der aus den afghanischen Bergen stammte und dort von den Herden seines Vaters weg der Samarkander Wissenschaft in die Arme gelaufen war. Helläugig war er wie ein Abendländer, dazu scharfsichtig wie ein Falke und von einer Beobachtungs- und Unterscheidungsgabe, die mich in Erstaunen versetzte. Er wurde der Vertraute aller meiner Gedanken, die er immer wieder freudig aufgriff, weiter verfolgte und schließlich – anfocht. Diese Fähigkeit an ihm schätzte ich besonders: Nachbeter findet man leicht, doch wenn man sich ihrer auch freut, darf man niemals vergessen, dass sie uns auch in unsern Irrtümern bestätigen, und das hatte ich bei Junus nicht zu befürchten. Wir arbeiteten oft bis tief in die Nacht, und der Meinungsstreit wurde manchmal recht lebhaft. Wenn es dann zu spät geworden war, als dass er noch seine Schlafstelle in der Medrese hätte aufsuchen können, brachte ich Kissen herbei und ließ ihn in meinem Arbeitszimmer nächtigen.
Eines wunderte mich in jenem Winter. Sooft ich auch die Sternwarte besuchte, Ulug Beg begegnete ich nicht wieder.
»Er hat andere Sorgen«, antwortete mir Ali Kuschtschi, den ich danach fragte. »Es sind schlimme Nachrichten von Herat
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