Schatten ueber Broughton House
was er mit seinen kleinen Zinnsoldaten anstellte, übertraf bei Weitem noch Megans Vorstellung.
„Das wird Agincourt“, erläuterte Lord Bellard und schaute Megan hoffnungsvoll an.
„Ah ja.“ Megan konnte sich erinnern, dass die Haushälterin Agincourt erwähnt hatte - jene Schlacht in der Normandie, in der Henry V. vor langer Zeit die Franzosen geschlagen hatte. „,Ruft: Gott mi Henry, England und Sankt Georg!“ Geschichte war gewiss nicht ihre Stärke, aber zumindest kannte sie Shakespeare!
Die Miene des alten Mannes hellte sich auf, und strahlend zitierte er: „,Uns wen’ge, uns beglücktes Häuflein Brüder.““
Und damit hatte sie allem Anschein nach den Großonkel der Zwillinge für sich gewonnen, denn er führte sie nun durch seine Werkstatt, benannte die Schlachten und erklärte ihr den genauen Aufbau.
Er schien sich überhaupt nicht über ihre Anwesenheit im Haus seiner Familie zu wundem und fragte sie nicht einmal nach ihrem Namen. Erst als sie sich schließlich von ihm verabschiedete, stellte sie sich als die neue Lehrerin der Zwillinge vor - damit er sich später nicht wunderte, wem er da wohl seine Sammlung gezeigt habe.
Doch das schien ihn nur wenig zu kümmern. Er meinte lediglich: „Ah ja, eine Frau. Wie interessant. Das sieht mir nach Emmelines Entscheidung aus.“ Lächelnd sah er Megan an. „Willkommen, Miss Anderson. Wenn Sie einmal Hilfe benötigen ...“ Megan erwiderte sein Lächeln und verzichtete darauf, ihn zu verbessern. Der alte Herr war zwar ein wenig seltsam und schien ganz in seiner gelehrten Welt zu leben, aber sie fand ihn liebenswert und mochte ihn. Fragen des Anstands oder des gesellschaftlichen Ranges - ja, gar der persönlichen Identität -schienen für ihn nicht von Bedeutung zu sein.
Danach setzte sie ihre Erkundung des Hauses fort, schaute verstohlen in leere Gemächer und öffnete vorsichtig verschlossene Türen. Meist führten diese in Schlafzimmer, manche jedoch auch in Salons oder Studierzimmer und in eine Bibliothek sowie einen großen, prächtigen Ballsaal. Unterwegs begegnete sie einigen Dienstboten. Sobald sie von fern jemand aus der Familie erspähte, huschte Megan hinter einen Wandvorsprung oder in eines der leeren Zimmer, um nicht gesehen zu werden.
Am meisten interessierte sie jener Raum, den sie im ersten Stock neben der Bibliothek entdeckt hatte. Sowohl die Tür zum Gang als auch eine weitere, die in die Holzvertäfelung der Bibliothek eingelassen war und vermutlich ebenfalls in das Zimmer führte, waren verschlossen, was sogleich Megans Neugier geweckt hatte. Ein verriegeltes Zimmer in diesem ansonsten so zugänglichen Haushalt war höchst ungewöhnlich. Die Vermutung lag nahe, dass etwas Wertvolles dort verwahrt wurde, und es mochte der wahrscheinlichste Ort sein, an dem sich der Gegenstand befand, den Theo Moreland ihrem Bruder entwendet hatte.
Nachdenklich ging Megan zurück ins Schulzimmer, wo sie gemeinsam mit Con und Alex ihren abendlichen Tee nahm. Die Jungen waren gerade mit fleckigen Händen und verschmiertem Gesicht von ihrem Naturkundeunterricht zurückgekehrt und rochen leicht nach Schwefel. Begeistert erzählten sie von einem chemischen Experiment, das ihnen „fast geglückt“ sei, und Megan beschloss, lieber nicht danach zu fragen, was denn nicht geglückt sei.
„Nachdem ihr euch etwas sauber gemacht habt“, sagte sie zu ihnen, „könnten wir in die Bibliothek hinuntergehen und nach einigen Büchern schauen, die ihr gerne lesen würdet.“
Denn, so hatte sich Megan überlegt, wenn sie in der Bibliothek waren, könnte sie ganz beiläufig versuchen, die verschlossene Tür zu öffnen, woraufhin ihr die redseligen Zwillinge sicher sogleich erzählen würden, was sich dahinter verbarg. Doch ihr Plan wurde zunichte gemacht, als Con und Alex den Kopf schüttelten.
„Oh nein, Miss. Nachdem wir uns umgezogen haben, gehen wir zum Abendessen hinunter - wir essen immer recht früh. Deshalb gab es auch so wenig zum Tee , ließ Alex sie wissen.
„Esst ihr etwa gemeinsam mit eurer Familie zu Abend?“, fragte Megan verwundert. Soweit sie wusste, war es in reichen
Familien üblich, dass die Kinder zeitig mit ihrem Lehrer oder ihrer Gouvernante aßen, während die Erwachsenen erst spät dinierten, ohne von den Kindern gestört zu werden.
„Nur dann nicht, wenn Besuch kommt, der langweilig ist.
Aber weil Reed und Anna hier sind, ist heute bestimmt die ganze Familie zu Hause“, vermutete Con.
Alex schluckte seinen letzten Bissen
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