Schatten über Oxford
unbedingt nützlich für das Buch, das Estelle in einem halben Jahr von ihr erwartete.
»Sie werden mich jetzt entschuldigen müssen«, kündigte Miss Arbuthnot an.
»Entschuldigen Sie bitte. Jetzt habe ich Sie den ganzen Morgen aufgehalten.«
»Das ist es nicht. Mit meiner Zeit weiß ich ohnehin nichts Besseres anzufangen. Aber die vielen Erinnerungen machen mich sehr müde.«
In ihrer Begeisterung hatte Kate vergessen, dass Miss Arbuthnot ziemlich alt sein musste. Bestimmt schon über achtzig.
»Ich sehe Ihnen an der Nasenspitze an, dass Sie jetzt nachrechnen, Miss Ivory. Aber ich verrate es Ihnen gern. Ich bin einundneunzig.«
Hoffentlich bin ich mit einundneunzig auch noch geistig und körperlich so in Form, dachte Kate. Falls ich überhaupt so alt werden sollte.
»Ich wollte Ihnen aber noch einen Vorschlag machen, ehe Sie jetzt gehen.«
»Ja?«
»Sie könnten den besten Freund von Christopher besuchen. Sein Name ist Shawn Riley.«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Natürlich. Shawn kommt häufig zu Besuch und kümmert sich um die Kleinigkeiten, die in meiner Wohnung zu tun sind. Er ist ein netter Junge. Nicht übermäßig intelligent, aber nett. Und manchmal ist Nettigkeit wichtiger als alles andere, finden Sie nicht?«
»Und er war mit Christopher befreundet?«
»Soviel ich weiß, waren sie während der Monate, die beide hier verbracht haben, die allerbesten Freunde. Shawn hat sehr unter Christophers Tod gelitten. Ich bin sicher, dass er gern mit Ihnen über seinen Freund sprechen würde.«
Miss Arbuthnot, die während des gesamten Gesprächs auf einem Stuhl gesessen hatte, stand auf. Falls ihr das schwerfiel, ließ sie es Kate kaum merken.
»Ich schreibe Ihnen noch die Adresse auf«, sagte sie.
»Ich gehe auch gleich«, versprach Kate.
»In Ordnung. Hier, bitte sehr.« Sie reichte Kate ein Blatt, auf dem sie in ordentlicher Lehrerinnenschrift die Adresse notiert hatte.
»Vielen Dank«, sagte Kate im Gehen. »Sie waren mir eine große Hilfe.«
»Schon gut. Trotzdem hoffe ich, dass Ihr nächstes Buch nicht allzu ernst wird. Mir gefallen die amüsanten und historisch so köstlich ungenauen Romane, die Sie bisher geschrieben haben.«
»Keine Sorge. Wenn es nach meiner Agentin geht, wird mein nächstes Buch mindestens so frivol wie die anderen auch. Auf Wiedersehen, Miss Arbuthnot.«
Tja, da hatte Kate nun eine weitere Ansicht über Elinor Marlyn gehört, die von Georges Meinung wahrscheinlich deutlich weiter entfernt war als von Christophers. Auch wenn Miss Arbuthnot manchmal aus einem recht puritanischen Blickwinkel argumentierte, war sie in Kates Augen doch eine kluge Frau.
Sie warf einen Blick auf den Namen und die Adresse, die die alte Lehrerin ihr gegeben hatte. Es war ganz in der Nähe. Trotzdem wollte sie lieber nachsehen, ob Shawn Riley im Telefonbuch stand. Sicher war es besser, kurz anzurufen, ehe sie an seiner Tür klingelte, vor allem, weil es sich um jemanden handelte, der nach Miss Arbuthnots Ansprüchen erzogen worden war. Kate warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, ehe sie in der Bibliothek sein musste. Sie konnte sich also noch in aller Ruhe etwas Bequemeres anziehen.
Als sie Georges Haus erreichte, das sie in Gedanken inzwischen längst High Corner nannte, stellte sie fest, dass Post für sie angekommen war. Es war ein handgeschriebener Brief, abgestempelt in Süd-London .Alan Barnes!
Sie nahm den Brief mit nach oben in ihr Arbeitszimmer.
Es war ein höflich formuliertes Schreiben, in dem man ihr mitteilte, dass der jetzige Besitzer erst seit sechs Monaten in der Reckitt Street 26 wohnte und den Namen Alan Barnes noch nie gehört hatte. Leider sei man daher nicht in der Lage, Kates Brief an ihn weiterzuleiten.
Mist!
Sie knüllte den Brief zusammen und warf ihn in ihren wie neu aussehenden, auf Hochglanz polierten und sehr hübschen Messingpapierkorb, wo er mit einem satten »Klong« landete.
Um sich ein wenig aufzuheitern, suchte sie Shawn Rileys Nummer aus dem Telefonbuch und rief ihn an. Er sagte, dass er gern bereit wäre, sie noch am selben Nachmittag zu treffen.
In der Bibliothek suchte Kate in der Lokalzeitung nach einem Bericht zum Tod von Elinor Marlyn. Sie fand ihn wie erwartet in einer Ausgabe von Ende November 1945, doch der Artikel war so diskret formuliert, dass er so gut wie nichts aussagte. »Eine hoch angesehene Mitbürgerin … eine bekannte Familie … ein furchtbarer Unfall …«
Etwa eine Woche später war in der Presse
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