Schattenblüte. Die Erwählten
die grellste Sonne. Ihr macht mich blind!»
«Himmel noch mal, dann sieh eben weg.» Noch ein Schritt auf sie zu, noch einer, ganz langsam diesmal, dann stehe ich vor ihr. Ich senke meine Lider, versuche, ruhig zu atmen und meinen Blick zu dämpfen. Und auf einmal merke ich, dass sie mich doch ansieht, fragend, als würde sie etwas nicht verstehen. «Was tust du hier?», faucht sie.
Warum fragt sie das? Vermutlich hat sie angenommen, ich sei tot. Denn als Thursen mich das letzte Mal sah, hatte Norrock, der riesige schwarze Wolf, gerade meinen Hals zwischen den Zähnen, bereit zuzubeißen. Mit einem Ruck ziehe ich die Kette zwischen meinen Händen stramm. «Wunderst du dich, dass ich noch lebe? Hat Norrock dir etwa nicht gesagt, dass er keine Lust hatte, mich umzubringen?»
«Wer bist du?» Sie zeigt zur Tür. «Du gehörst zu ihnen. Und trotzdem … Wer bist du?»
Klirren zeigt mir, dass mir gerade die Kette aus der Hand rutscht. Kann sie sich wirklich nicht erinnern? Oder spielt sie mir etwas vor – wieder einmal? Doch ihr Blick ist leer, ohne den geringsten Funken von Erkennen. Dann, als ich immer noch warte, mischt sich Verwirrung hinein. Verwirrung, dass ich sie nicht gleich angreife. «Du erinnerst dich nicht an mich?»
«Wie denn?» Sie hebt wütend die Hände. «Uns Werwölfen verblasst ihr altes Leben.»
Sie hört sich an, als hätte ich ihr in einer Prüfung eine viel zu schwere Frage gestellt. Als ginge sie die Antwort nichts an. Sie muss doch wenigstens noch eine Ahnung haben, dass ich ihr nicht ganz unbekannt bin! «Elias. Ich bin Elias. Du musst dich doch erinnern! Wir waren Freunde, zumindest hast du das gesagt.» Ich mache einen weiteren Schritt auf sie zu, versuche, ihr die Hände auf die Schultern zu legen. «Luisa!», beginne ich. Da verwandelt sie sich fast. Grotesk verzerrt sich ihr Gesicht, als der Mund zum Maul wird und ihre Zähne lang und weiß hervorwachsen. «Nicht!», keuche ich und reiße meine Hände zurück. «Nicht verwandeln!»
Sie schnappt nach Luft. Zitternd verändert sie ihre Form und wird wieder Mensch. Oder jedenfalls, soweit sie noch kann, denn immer noch umtanzt sie Dunkelheit.
«Fass mich nicht an!», grollt sie.
Ich hebe die Hände und zeige, dass ich Abstand halte. «Du darfst dich nicht mehr verwandeln, hörst du? Versuch, dich dagegen zu wehren, auch wenn du denkst, es ist stärker. Denk immer daran, du bist ein Mensch!»
«So leicht ist das nicht!» Ihre Wolfsstimme schickt mir einen Schauder über den Rücken.
«Es ist wie mit jeder Sucht, du musst dagegen ankämpfen. Am Anfang ist es am schwersten.»
«Du hast doch keine Ahnung. Sag mir lieber endlich, warum du hier bist.»
«Ich will dir helfen.»
«Warum?»
Warum? Weil ich immer noch hoffe, dass irgendwo tief in diesem Wesen etwas von der Luisa steckt, mit der ich Eierkuchen essen war? Mit der ich im Krankenhaus Kinder unterhalten habe? Der Luisa, die schließlich vor der Tür unserer Wohnung stand und ein Zimmer brauchte, weil ihr Vater ihr nicht erlaubte, allein zu wohnen, bis es ihrer Mutter wieder besser ging? «Wir haben zusammen gewohnt, das musst du doch noch wissen! Du bist zu uns in unsere Gruppe gezogen, als du nicht zu deinem Vater wolltest.»
Sie schüttelt den Kopf.
«Du hattest ein Zimmer mit Bogenfenstern und einem großen geschnitzten Holzschrank», versuche ich es weiter.
«Ich erinnere mich aber nicht! Es ist alles verschwommen, ja, ich war irgendwo zu Hause und dann nicht mehr. Da, wo ich war, waren viele andere. Aber das kann nicht bei dir gewesen sein. Ich hätte doch nie bei Leuten gewohnt, die so grelle Augen haben!»
«Doch, Luisa. Damals sind dir unsere Lichtaugen nur nicht aufgefallen, weil du dich noch nicht verwandelt hattest.»
«Ihr seid keine Menschen.»
«Ich habe dir davon erzählt. Wir sind Shinanim, die Engelskinder. Wir stammen von Menschen ab, aber auch von Engeln. Darum sind hier überall Engelsbilder. Unten in der Eingangshalle steht die goldene Kopie eines der ersten Engelsbilder, eines der Cherubim von der Bundeslade, hast du die gesehen?»
«Ich bin in einer Kiste hierhergebracht worden», knurrt sie. «Tut mir leid, dass ich nichts gesehen habe.»
«Das mit der Kiste ging nicht anders. Wir wussten nicht, wie wir uns sonst vor dir schützen sollten. Muss ich dir wirklich sagen, wie gefährlich ihr Werwölfe seid?»
Sie geht auf ein Bild zu, das an der Wand hängt. Erzengel Michael ist darauf. «Ihr seid Engel?»
Humpelt sie? Ist sie verletzt? «Wir
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