Schattenelf - 6 - Der letzte Kampf
und es war Aydrian, der als Erster blinzelte. Er war sich darüber im Klaren, dass De’Unnero in diesem Punkt womöglich Recht hatte. Vielleicht war ihm damals, als er seine Mutter hatte gehen lassen, in seinem unerschütterlichen Selbstvertrauen ein Fehler unterlaufen. Kundschaftete sie jetzt vielleicht mit ihrem Seelenstein die Gebiete an der Küste aus, in denen Midalis ungefährdet angreifen konnte? War sie am Ende so weit nach Süden vorgedrungen, dass sie sich ein Bild von der Lage in Jacintha hatte machen können und Prinz Midalis zu Brynn geführt hatte?
Aydrian erschien dies eher unwahrscheinlich, schließlich unterlag die Geistwanderung starken Einschränkungen. Trotzdem war hier ganz offenkundig etwas im Gange.
»Behren und To-gai sind nicht mehr in unseren Krieg verwickelt«, erklärte Aydrian den beiden Männern. »Ich habe sowohl mit Brynn Dharielle als auch mit dem Vertreter Jacinthas ein dementsprechendes Abkommen unterzeichnet.«
»Wenn sie sich denn daran halten«, brummte Herzog Kalas.
»Brynn Dharielles Wort ist über jeden Zweifel erhaben«, entgegnete Aydrian. »Sie hat sich einverstanden erklärt, dass To-gai auf alle kriegerischen Handlungen gegen das Bärenreich verzichten wird, und so wird es auch geschehen. Und was Behren anbelangt, so sind die Menschen dort, nach allem, was man hört, derzeit viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bekriegen, um ihr Augenmerk nach Norden zu richten.«
»Demnach müssen wir den Schutz Entels, abgesehen von einer Truppe, die imstande wäre, Prinz Midalis zurückzuwerfen, gar nicht verstärken«, folgerte Kalas.
»Die Stadt Entel ist sicher«, erklärte Aydrian. »Denn Prinz Midalis’ Strategie besteht darin, an unseren schwächsten Stellen zuzuschlagen und sich dann fluchtartig zurückzuziehen.«
»Er versucht Eure Unterstützung im Volk zu untergraben«, sagte De’Unnero. »Er versucht ihnen einzureden, er habe als ihr König beste Chancen, sich im Amt zu behaupten.«
»Und um dem entgegenzuwirken, benötigen wir dringend einen entscheidenden Sieg«, erklärte Aydrian. Er zeigte mit dem Finger geradewegs zur Zeltöffnung hinaus, quer über das Feld auf das ferne, graubraune Gemäuer von St. Mere-Abelle. »Wir müssen St. Mere-Abelle überrennen, und zwar bald«, erläuterte er. »Ist die Abtei erst eingenommen, stehen meine Armeen zu einer umfassenden Sicherung der Küste bereit. Wo will Prinz Midalis dann noch angreifen?«
»Der Zugang zum Kloster ist ihm bereits versperrt, mein König«, verkündete Herzog Kalas mit stolzgeschwellter Brust. »Die Hafenanlagen von St. Mere-Abelle liegen in Trümmern, und sämtliche einlaufenden Schiffe werden von den Klippen im Norden und Süden mit ständigem Sperrfeuer belegt werden. Unsere eigenen Kriegsschiffe halten sich verborgen im Schutz dieser Geschützbatterien bereit. Ich versichere Euch, jeder Versuch von Prinz Midalis, den Hafen anzulaufen, wird ihn teuer zu stehen kommen.«
»Wir haben auch die Verteidigungsanlagen der Abtei heftig beschossen«, fügte De’Unnero hinzu. Dem Blick, den Kalas ihm daraufhin zuwarf, entnahm Aydrian, dass der Mönch sich zu Wort meldete, damit er bei der Verteilung des Ruhmes ja nicht vergessen wurde. »Jeden Morgen sind die Ordensbrüder vom Donner der Steingeschosse und vom Geruch brennenden Pechs geweckt worden.«
Aydrian, hocherfreut ob dieser Nachrichten, nickte. Im Grunde bezweifelte er nicht, dass seine Armee imstande wäre, die Abtei zu überrennen, erst recht nicht, wenn er selbst zugegen war, um das magische Gegenfeuer zu neutralisieren und selbst noch weit zerstörerischere Angriffe in die Wege zu leiten. Aber er wusste auch, dass die Verteidigungsanlagen der Abtei sowohl über- als auch unterirdisch angelegt waren und es ein weit verzweigtes System aus unterirdischen Gängen und befestigten Schutzräumen gab. Das Tor, so Aydrians Überzeugung, würde er ohne allzu große Mühe überwinden können – war es ihm in Palmaris nicht ebenfalls gelungen? Aber er wusste auch, dass der Kampf um die Herrschaft über das Kloster langwierig und schwierig werden könnte.
Der junge König hatte jüngst eine Reihe von Rückschlägen hinnehmen müssen und wollte daher bei der für ihn wichtigsten Schlacht mit äußerster Umsicht vorgehen. Abt Olin hatte ihn im Stich gelassen, und Prinz Midalis hatte ihn bereits mehrfach unangenehm überrascht. So weit durfte er es auf keinen Fall noch einmal kommen lassen.
Später am selben Abend – De’Unnero, Kalas
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