Schattenelf - 6 - Der letzte Kampf
grinsend zu. Offensichtlich konnten sie es kaum erwarten.
Mit seinen mittlerweile gut fünfzig Jahren gehörte Wachmann Constantine Presse zu den ältesten und erfahrensten Offizieren der Küstenwache – und mit seinem säuberlich gestutzten Schnauzer und Spitzbart, dem traditionellen rotblauen Überzieher und dem schwarzen ledernen, von der rechten Schulter zur linken Hüfte verlaufenden Waffengurt auch zu den korrektesten. Er war ein groß gewachsener Mann von makellos aufrechter Körperhaltung und hatte in sämtlichen größeren Vorposten dieser Truppe Dienst getan, von Pireth Tulme über Dancard bis hin zu Pireth Vanguard im Norden. Er war bestens über die Politik des Bärenreiches informiert und auch mit den Schlichen vertraut, deren sich ehrgeizige junge Kommandanten auf der Suche nach dem schnellen Weg zur Beförderung gelegentlich bedienten.
Presso war sofort unterrichtet worden, als man die Flotte gesichtet hatte, und war rechtzeitig oben auf dem Turm eingetroffen, um die Präzision der Schiffe zu bewundern, als sie aus einer offenen in die Schlachtformation hinüberwechselten.
Im Augenblick beobachtete er ihre jüngste Kriegslist, oder was immer der Zweck des Manövers war.
»Sie haben den Bären Ursals gehisst!«, rief irgendwo unten ein Matrose.
Womit er durchaus Recht hatte, wie Constantine Presso selbst erkennen konnte. Das einsam nahende Schiff hatte nicht etwa jene merkwürdige Flagge aufgezogen, die die Gerüchte über einen Machtwechsel in Ursal zu bestätigen schien, sondern die weitaus gebräuchlichere Flagge König Danubes und seiner Vorgänger. Doch der Wachmann sah auch, dass sie in diesem Moment noch eine weitere Fahne an ihrem Hauptmast hissten, die weiße Unterhändlerflagge.
Presso schlenderte über sein Turmdach und begutachtete die Katapultstellungen rechts und links zwischen den Steinwällen und die große, schwenkbare Wurfmaschine auf dem Turmdach selbst. Kurz darauf begab er sich wieder zurück zu dem die Anlegestelle überblickenden Vorbau und rief seinen Leuten zu, sich »bereitzuhalten«.
Dann richtete er seinen Blick erneut seewärts auf das rasch näher kommende Schiff und die zehn anderen, die gemächlich dahinter folgten – ehe sein Blick auf die vier weiteren fiel, die sich aus der hinteren Reihe gelöst hatten und sich anschickten, Pireth Dancard in schneller Fahrt zu umsegeln. Presso warf auch einen kurzen Blick nach Norden, wo die beiden Spähschiffe Dancards vor langer Zeit hinter dem Horizont verschwunden waren. Für den Fall, dass ein gegnerisches Schiff sich der Festung näherte, hatten sie den Befehl, umgehend in See zu stechen. Denn Dancard war nicht dafür geschaffen, einem mächtigen Gegner zu trotzen, sondern diente lediglich als Beobachtungsposten für das im Süden gelegene Festland sowie Vanguard im Norden.
»Welchem König dienen sie denn nun?«, hörte man einen der Posten in seiner Stellung auf dem Schutzwall unterhalb des Turms in merklicher Verwirrung rufen.
Wachmann Presso sah zu dem ersten Schiff hinüber und stellte fest, dass man auf dem schnell näher kommenden Kriegsschiff sowohl die Flagge Ursals als auch die weiße Fahne eingeholt hatte. Stattdessen zeigte das Schiff nun die gleiche Flagge, die auch die anderen gesetzt hatten – zusammen mit einer zweiten, die rasch die Führungsleine hinaufgezogen wurde: eine weiße, schwarz umrandete Flagge mit einem roten X.
In der Seemannssprache des Bärenreiches war dies die Flagge, mit der man die Kapitulation verlangte.
Presso bemerkte, dass das Katapult des Schiffes, in dessen Korb bereits das Pech schwelte, gespannt und feuerbereit war. Fassungslos beobachtete er, wie ein Regiment Bogenschützen sich an Deck zusammendrängte, alle in der Uniform der Kingsmen. Sie tauchten ihre Pfeile in hinter der Reling verborgene Behälter, ehe sie sie mit brennender Spitze in den Himmel richteten und ihre mächtigen Bögen zu spannen begannen.
Hinter Presso kam plötzlich Bewegung in die Katapultbesatzung.
»Wartet noch!«, befahl ihnen der Wachmann.
Zu Pressos Leidwesen waren nur wenige auf der Insel wirklich kampferprobt. Presso erkannte die Bewegungen des Schiffes als Provokation und Täuschungsmanöver – das verrieten das volle Segel und sein steter Kurs. Einigen der jüngeren und ängstlicheren Angehörigen der Küstenwache war dies jedoch offenbar entgangen.
Ein paar vereinzelte Pfeile senkten sich im Bogen Richtung Schiff, eines der Katapulte Dancards feuerte, und schließlich auch noch
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