Schattengefährte
Seine Nase war gewachsen, die blonden Brauen dichter geworden – der kindliche Ausdruck in seinen Zügen verlor sich. Nur die Sommersprossen waren zahlreich auf seinem Gesicht verblieben, sie schienen sich sogar vermehrt zu haben.
»Nemed war es, der den Feenbogen heimlich an sich brachte, Herrin. Wenige Tage, nachdem Ihr das Königreich verlassen hattet, ritt er in aller Frühe aus der Burg, ganz allein und ohne Gefolge. Er glaubte gewiss, dass niemand den Feenbogen sehen könne, der an seinem Sattel hing, denn er hatte seinen Mantel darüber gedeckt. Doch ich habe scharfe Augen und konnte das Gold der Sehne schimmern sehen, als der Wind den Mantelstoff anhob.«
Welch eine Botschaft! Deshalb also hatte man ihren Bogen nicht finden können – Nemed, dieser hinterhältige Mensch, hatte ihn gestohlen und versteckt.
»Er hat es gewagt, heimlich den Bogen meiner Mutter zu erproben? Dieser Dummkopf! Kein Mensch kann diese Waffe führen, auch mein Vater vermochte es nicht.«
»Das wird Nemed auch bemerkt haben, denn als er gegen Mittag zurückkehrte, war er voller Schrammen, ohne Stiefel und das Gewand hatte Risse, als sei er durch das Unterholz gelaufen. Auch den Mantel sah ich nicht mehr, und an seinem Sattel hing kein Bogen.«
»Ob er ihn zerstört hat, weil ihm die Waffe nicht gehorchen wollte?«, überlegte Alina ängstlich.
»Das würde zu ihm passen«, knurrte Macha. »Nemed hat gehofft, mit Hilfe dieser Zauberwaffe König des Hügellandes zu werden. Da er an dem Bogen gescheitert ist, wollte er gewiss verhindern, dass ein anderer die mächtige Waffe in die Finger bekommt.«
»Wissen die Menschen, dass der Feenbogen verloren ist?«
»Nein«, gab Macha grimmig zurück. »Sie glauben alle, dass du sie mit dieser Zauberwaffe vor den Drachen schützen wirst.«
»Dann können wir nur hoffen, dass die Drachen uns nicht angreifen werden, bevor Ogyn einen Zauber gegen sie gefunden hat!«
Baldin nahm die Schultern zurück, und nun sah man deutlich, dass er ein Stück gewachsen war. Seine Miene war die eines Mannes, der sich einer großen Aufgabe stellt.
»Auch wenn der Feenbogen verloren ist, Herrin, es gibt genügend Männer, die für Euch und das Hügelland kämpfen werden. Ich bin nur ein Knappe, aber mein Leben gehört Euch.«
»Ich nehme dein Angebot mit Dank an, Baldin«, gab Alina ernsthaft zur Antwort. »Du bist noch jung, doch ich bin sicher, dass es in dieser Burg keinen Knappen und auch keinen Ritter gibt, der dir an Mut ebenbürtig ist.«
Nie hatte sie so zu ihm gesprochen – der Stolz, von seiner jungen Herrin endlich wie ein Mann behandelt zu werden, machte ihn sprachlos, doch sein Gesicht strahlte. Er kniete vor Alina nieder, und als sie ihm die Hand reichte, wagte er es, einen zarten Kuss darauf zu hauchen. Dann sprang er auf, als habe ihn eine Wespe gestochen, und lief so eilig davon, dass sein Ärmel am Türriegel hängen blieb und einen Riss bekam.
»Ich wünschte, er wäre doppelt so alt und halb so ungeschickt«, seufzte Macha und lächelte dabei.
Nach alter Gewohnheit hatte sie den Kamm ergriffen, denn sie fand, dass Alinas Haar dringend geglättet werden musste. Zu ihrer Überraschung lehnte ihr Schützling jedoch ab. Auch den Mantel, den Alina zusammengewickelt wie ein Paket unter dem Arm getragen hatte, durfte Macha nicht ausbürsten und schon gar nicht zum Waschen tragen.
»Sag mir lieber, was mit meinem Vater geschehen ist? Er hat Nemed niemals vertraut – warum kann Nessas Bruder sich jetzt solche Rechte herausnehmen?«
Alina hatte sich nach einigem Zögern auf ihrem Bett niedergelassen, und Macha besah nun eingehend Alinas Gewand. Ahnte sie, dass es ein Feenkleid war? Wenn ja, dann ließ sie sich nichts anmerken.
»Nemed hat immer gehofft, dich einst zu heiraten, um König zu werden. Als du jedoch dem Rabenkrieger gefolgt bist, hat er andere Pläne schmieden müssen. Er hat sich hinter seine Schwester gesteckt, sie sollte den König dazu bringen, den Ritter Nemed zu seinem Nachfolger zu bestimmen. Dafür hat Nemed seiner Schwester versprochen, sie an der Macht teilhaben zu lassen.«
»Aber das würde mein Vater niemals tun!«, rief Alina.
»Er wird es tun, denn er ist in Nessas Hand. Dein Vater ist krank, und sein Wille ist gebrochen.«
Alina erschrak zutiefst. Es war ihre Schuld, sie hatte ihren Vater verlassen, um mit dem ungetreuen Rabenkrieger fortzuziehen. Gewiss, sie hatte es auch deshalb getan, weil sie das Versprechen des Königs einlösen wollte. Aber wenn sie
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