Schattengefährte
zurückzog. Nemed war eher fett als kräftig, und sein beginnender Bauch machte ihn schwerfällig, dennoch war er ihr an Körperkraft um einiges überlegen, und sie wusste recht gut, dass er keine Bedenken haben würde, ihr Gewalt anzutun.
»Eure erste Pflicht als Tochter ist, den Ritter zu heiraten, den Euer Vater zu Eurem Ehemann ausgewählt hat!«
Er hatte jetzt alle Freundlichkeit aufgegeben und sprach in hartem Befehlston, vermutlich hatte ihr eiliger Rückzug ihn ermutigt, und er wollte ihre Angst nutzen, um sie gefügig zu machen.
»Wenn mein Vater wieder bei klarem Verstand ist, werde ich ihn fragen, welchen Ehemann er für mich ausgewählt hat. Was er jetzt in seinem Fieberwahn redet, kann niemand ernst nehmen.«
»Er wird seine Worte im großen Saal vor der versammelten Burggesellschaft wiederholen, Alina. Ihr tut gut daran, Euch nicht länger zu widersetzen, denn es gibt Mittel, eine ungehorsame Königstochter zu zwingen. Der Turm ist nur eines davon.«
Die Spinne hatte sie mit ihren langen Greifarmen gepackt und wollte sie mit ihrem giftigen Biss betäuben – doch Alina wehrte sich.
»Freiwillig werde ich nicht Eure Frau – das schwöre ich!«, rief sie laut, zog sich jedoch vorsichtshalber hinter den Lehnstuhl zurück, in dem ihr Vater teilnahmslos und in sich zusammengesunken saß. Wenn man ihm wenigstens eine Waffe gegeben hätte, einen Dolch oder sein Schwert – dann hätte sie sich damit verteidigen können. Doch Rüstung und Waffen des Königs waren verschwunden – vermutlich hatte Nemed sie längst in sein eigenes Gemach bringen lassen.
»Ihr solltet nicht nur an Euch selbst denken, stolze Alina«, hörte sie Nemeds boshafte Stimme. »Euer kleiner Freund Baldin ist voller Mut und Begeisterung, doch es fehlt ihm die Klugheit des erwachsenen Kämpfers. Es wäre ein Jammer, wenn dieser kleine Bursche sein Leben allzu früh und ohne ritterlichen Ruhm beenden müsste. Auch der alte Fergus würde sein Dasein nicht gern im Kerker beschließen, und Eure treue Macha hat Besseres verdient, als den Raben zum Fraß am Galgen zu hängen.«
Oh, wie gut er ihren wunden Punkt getroffen hatte! Weder Folter noch Schande hätten sie dazu gebracht, seinen Willen zu tun. Aber für das Leid ihrer Freunde verantwortlich zu sein, das war etwas anderes. Alina schauderte vor der Machtgier dieses Mannes, der vor keiner Niedertracht zurückschreckte, um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen. Ihr Vater hatte Nemed gut durchschaut, damals, als er noch gesund und nicht durch Nessas giftige Tränke verwirrt war.
»Niemand wird Euch beistehen, Alina«, fuhr ihr Peiniger fort. »Euer Vater wird nicht mehr lange leben, und Eure Mutter hat auf dieser Burg keine Macht. Doch Ihr habt immerhin noch die Möglichkeit, durch Euer Opfer das Leben Eurer Freunde zu retten …«
Wohin war sie geraten? Sie hatte geglaubt, in ihre Heimat zurückzukehren, doch stattdessen war sie in ein Spinnennetz gefallen, und die Kraft, sich daraus wieder zu befreien, erlahmte immer mehr. Die Spinne würde sie gleich wie ein Paket zusammenschnüren und in ihrer Speisekammer deponieren, wo sie hilflos warten musste, bis die Bestie Lust bekam, ihr Opfer zu fressen.
Es blieb ihr nur noch eine einzige Möglichkeit – sie musste alle ihre Freunde und auch ihren Vater dem Elend überlassen und in Gestalt der Räbin aus der Burg fliehen.
»Herr!«
Die wohlbekannte, junge Stimme ließ sie zusammenschrecken, denn sie fürchtete, Nemed könne ihr auf der Stelle beweisen, wie leicht es für ihn war, den kleinen Baldin mit seinem Dolch zu töten. Doch nichts dergleichen geschah, unbehelligt trat der blondhaarige Knappe ein und verbeugte sich hastig.
»Ein Gast ist auf der Burg angekommen«, sprudelte Baldin hervor und schien sich dabei eher an Alina als an Nemed zu richten.
»Was belästigst du mich damit?«, polterte Nemed. »Lauf und sag es der Burgherrin.«
»Es ist aber …«
»Bist du taub? Soll ich dir vielleicht Beine machen?«
Baldin zitterte vor Aufregung, doch war ihm nicht anzusehen, ob die Nachricht ihn zutiefst entsetzte oder hoch erfreute.
»Es ist der Rabenkrieger, Herr.«
Kapitel 26
Nemed stand einen Augenblick wie versteinert und glotzte den Unglücksboten an, als wolle er sich auf ihn stürzen. Dann lief er zu einem der Fenster und riss es so hastig auf, dass das Holz des Fensterflügels splitterte.
»Verflucht …«, hörte Alina ihn leise murmeln.
Sie selbst verspürte einen unsagbar großen Jubel, der aller Vernunft
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