Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
deutete hinüber zum entfernten Ufer.
Dort spielten zwei Otter im offenen Wasser miteinander. Sie paddelten ans Ufer, hüpften tapsig den verschneiten Uferhang hoch und ließen sich fröhlich auf dem glatten Bauch ins Wasser zurückrutschen. Schnalzend und grunzend wiederholten sie das ganze Spiel immer wieder mit sichtlichem Spaß daran, und Alec und Beka sahen voller Vergnügen zu.
»Sie erinnern mich an Seregil«, flüsterte Alec und stützte sich mit einem Ellbogen auf den Baumstamm. »Nysander hat ihn einmal in einen Otter verwandelt, als wir uns im Orëska-Haus aufhielten. Da gibt es einen besonderen Zauberspruch – ich weiß nicht mehr, wie er ihn nannte –, aber Nysander sagt, daß die Art von Tier, in die man sich verwandelt, mit dem Charakter der betreffenden Person zusammenhängt.«
»Ein Otter?« sagte Beka nachdenklich. »Ich hätte ihn eher für einen Luchs oder einen Panther gehalten. Hat er das mit dir auch gemacht?«
»Ich habe mich in einen Hirsch verwandelt.«
»Ja, ich glaube, das kann ich verstehen. Was, glaubst du, würde aus mir?«
Alec überlegte. »Ein Habicht, möchte ich wetten, oder vielleicht eine Wölfin. Jedenfalls ein Jäger.«
»Habicht oder Wölfin, ja? Das würde mir gefallen«, murmelte sie.
Schweigend beobachteten sie die Otter weiter, und beide genossen diese Kameradschaft, die so selbstverständlich zwischen ihnen entstanden war.
»Also, komm jetzt, wir müssen nach Hause«, flüsterte Beka schließlich. Als sie zu den Pferden zurückschritten, wandte sie sich ihm zu und fragte: »Du hast ihn gern, nicht wahr?«
»Wen? Seregil?«
»Na klar.«
»Er ist mir ein guter Freund gewesen«, antwortete er, von der Frage ein wenig überrascht. »Warum sollte ich ihn nicht gern haben?«
»Oh.« Beka nickte, als habe sie eine andere Antwort erwartet. Dann: »Ich glaubte, er sei vielleicht dein Liebhaber.«
»Was?« Alec blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. »Wie kommst du denn auf so was?«
»Ich weiß nicht.« Erwiderte Beka spröde. »Bei Sakors Flammen, Alec, warum denn nicht? Er liebte einst auch meinen Vater, mußt du wissen.«
»Micums Liebhaber?« Alec lehnte sich an eine schlanke Erle. Der Baum schwankte unter seinem Gewicht, und Schnee rieselte auf die beiden herab. Auf Bekas Haar lag ein Schleier glitzernder Kristalle, und andere rieselten an Alecs Hals entlang ins Hemd hinein, wo sie als winzige, eiskalte Stiche schmolzen.
»Woher weißt du das?« wollte er völlig verwirrt wissen.
»Mutter hat es mir vor langer Zeit erzählt. Ich hatte einiges an Gerüchten gehört, und als ich älter wurde, wagte ich es schließlich zu fragen. Ihrer Erzählung nach war das Ganze ziemlich einseitig. Vater hatte sich bereits in sie verliebt, als er Seregil kennenlernte, aber Seregil gab wohl nicht so schnell auf. In jenen Tagen hatten er und Mutter nicht viel füreinander übrig, aber jetzt sind sie Freunde. Sie hat letzten Endes gewonnen, und er mußte das hinnehmen. Trotzdem erinnere ich mich noch – damals war ich sehr jung –, wie Vater und Mutter einmal stritten. Vater sagte etwas wie: ›Zwinge mich nicht, zu wählen, denn das kann ich nicht!‹ Und Mutter sagte mir, er habe dabei von Seregil gesprochen. Also denke ich, daß er auf seine eigene platonische Weise auch Seregil liebt.«
Alec gab diese unerwartete Enthüllung zu denken. Je mehr er über die Sitten im Süden erfuhr, desto unverständlicher erschienen sie ihm.
Micum beobachtete die Mädchen, wie sie sich bemühten, Alec im Wohnraum einen Volkstanz beizubringen. An diesem Nachmittag fielen draußen dicke Schneeflocken. Die Woche war beinahe zu Ende, und Micum wurde bewußt, daß er den Jungen vermissen würde.
Wie Seregil vorausgesehen hatte, fühlte sich Alec in dieser Familie ausgesprochen wohl und schien bereits nach so kurzer Zeit ein Teil von ihr geworden zu sein. Kari hatte ihn augenblicklich ins Herz geschlossen, und die Mädchen behandelten ihn wie ihren Bruder. Er hatte den Umgang mit dem Schwert auch verdammt schnell erfaßt, nachdem ihn Seregils Ungeduld nicht mehr behinderte.
Kari schlich sich von hinten an Micum an und legte ihm plötzlich die Arme um die Taille, während auch sie den Tanzunterricht verfolgte. Die Schritte waren schwierig, und es gab eine Menge gutmütiger Neckerei, als Alec zwischen Beka und Elsbet hin- und hergeschubst wurde.
»Ich wünschte, ich hätte dir einen solchen Sohn geschenkt«, flüsterte sie.
»Laß das Beka lieber nicht hören«, schmunzelte
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