Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
nicht übersehen.« Verstimmt nahm Seregil noch einen Schluck, dann starrte er in die Tiefen seines Kruges, als warte er, von dort eine Eingebung zu erhalten.
»Laß uns noch einmal nachsehen. Nein, ich halte es für besser, wenn du mir vorliest.«
»Das kann ja ewig dauern«, wandte Alec ein. »Du weißt, daß ich nicht gut lesen kann.«
»Es wird schon gehen, ich kann besser denken, wenn ich zuhöre, und es ist durchaus ein Vorteil, wenn du langsam liest. Lies nur die Einträge unter ›Ausgang‹.«
Alec nahm eines der Schriftstücke, hielt es gegen das spärliche Licht, das der Kamin spendete, und begann zu lesen. Seregil lehnte sich entspannt zurück. Gelegentlich half er Alec bei einem schwierigen Wort, ansonsten schien es, als nähme er wenig Anteil, bis Alec beim vierten Manifest angelangt war.
»Drei Kisten Pergament, zehn Kisten Talgkerzen«, las er und fuhr dabei mit dem Finger über die gelesenen Einträge. »Fünfundsechzig Säcke Gerste, vierzig Fässer Apfelwein, dreißig Rollen zweizölliges Seil, fünfzig Eisenmeißel, zweihundert Kellen, sechzig Holzhämmer, zwei Kisten Bildhauermarmor, zwanzig Rollen Leder …«
Seregil wurde aufmerksam. »Das kann nicht stimmen. Du mußt in die Spalte ›Eingänge‹ gerutscht sein.«
»Nein, sieh«, erwiderte Alec und zeigte ihm das Manifest. »Hier steht, ›Ausgehende Ware‹, und darunter Pergament, Kerzen, Gerste …«
Seregil setzte sich auf und las die Einträge, auf die Alecs Finger zeigte. »›Zweizölliges Seil, Meißel …‹ Du hast recht, hier steht Marmor. Aber die Ladung geht an eine Mine an der Küste des Osiat.« Er sprach leiser. »Nein, es ist ein Steinbruch! Hier steht, die Ladung sei für die Ilendri-Gruben bestimmt.«
»Und?«
Er legte eine Hand auf die Schulter des Jungen und zog bedeutungsvoll eine Braue hoch. »Warum würde jemand zwei schwere Steine zu einem Steinbruch bringen?«
»Bei Bilairy, das ist es!«
»Vielleicht, es sei denn, in den Kisten war tatsächlich Marmor, der aus unerfindlichen Gründen zurückgesandt wurde. Trotzdem ist es verdächtig.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Jetzt?« Lächelnd sammelte Seregil die Dokumente ein und erhob sich. »Jetzt nehmen wir uns erst mal ein billiges Zimmer in dieser einfachen Taverne. Ich glaube, wir haben uns eine bessere Unterkunft verdient und ein gutes Nachtmahl. Morgen sehen wir, was wir an den Docks erreichen können.«
»Was ist mit dem Steinbruch, dieser Ilendri-Grube? Werden wir dorthin reisen?«
»Das wäre die letzte Möglichkeit, aber die Reise dorthin und zurück würde eine ganze Woche dauern, und es ist gewiß, daß wir das Gold dort jetzt nicht finden. Ich bezweifle auch, daß sie überhaupt wußten, daß sie es hatten. Ich vermute, daß wir unsere Antwort viel näher zu Hause erhalten werden.«
36
Hinterhalt
Während der nächsten Tage suchten sie auf den Kais, über die der Wind hinwegfegte, Schiffe, die auch die Route der Hirsch befuhren. Sie machten einige Schiffe ausfindig, erfuhren jedoch wenig Nützliches. Am vierten Tag aber lief ein bauchiger kleiner Küstenfrachter mit dem phantasievollen Namen Libelle mit einer Ladung Steinen in den Hafen ein.
Alec und Seregil standen gegen einen Stapel Kisten gelehnt und beobachteten die Schauerleute, die Steinblöcke verschiedener Größen an Land hievten. Grobe Steinplatten, die als Baumaterial Verwendung fanden, waren durch schwere Netze aus Seilen geschützt, damit sie während des Transports nicht gegeneinanderrieben. Feinere, leichter zerbrechliche Blöcke wurden durch Holzkisten und Planen geschützt.
»Sie muß an mehreren Steinbrüchen geladen haben«, meinte Seregil.
»Hoffentlich war sie auch in Ilendri«, flüsterte Alec zurück.
Sie schlenderten zum Kai und betrachteten die Ladung. Dabei erweckten sie den Anschein, am Kauf interessiert zu sein. Da sie nach wie vor das Gewand wohlhabender Kaufleute trugen, erregten sie bald die Aufmerksamkeit des Kapitäns der Libelle.
»Handelt Ihr mit Steinen, meine Herren? Ich habe einige besonders schöne Stücke, heute«, rief er ihnen von der Reling aus zu.
»Das sehe ich«, erwiderte Seregil und fuhr mit der Hand über eine Platte aus glitzerndem Granit. »Ich suche nach Marmor von feinster Qualität.«
»Da habt Ihr Glück, Herr!« Der Mann stapfte die Gangway hinab und führte sie zu einigen Kisten. »Ich habe heute eine gute Auswahl mitgebracht: rosa, schwarz, grau und ein wunderschönes Weiß, wie die Brust einer Taube. Mal sehen, wo
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