Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
erneut, und das Ding fing Feuer. Beim dritten Versuch flog es gegen seinen Kopf oder den meinen. Eines Tages versuchte er einen einfachen Spruch, der eine Nachricht übermitteln sollte, und innerhalb von fünf Minuten kam jede Spinne, jeder Tausendfüßler und Ohrenkneifer im Palast unter der Tür durchgekrochen. Danach setzten wir den Unterricht im Freien fort.
Bei einem Versuch, etwas durch die Luft zu bewegen, sprengte er ein ganzes Wäldchen im Park. Ich wußte, daß er die Gabe hatte, selbst wenn er es nicht fühlte. Denn hie und da gelang ihm etwas, aber alles war so unberechenbar! Der arme Seregil war untröstlich. Ich sah ihn in Tränen ausbrechen beim Versuch, eine Kerze zu entzünden. Dann, eines Tages, verwandelte er sich in einen Ziegelstein.«
Alec hatte soeben am Wein genippt und fing an zu husten, als er sich verschluckte. Er wußte, daß er nicht lachen sollte, aber der Wein war in ihm, und er konnte nichts dagegen tun. Nichts von alledem klang nach dem Seregil, den er kannte.
Nysander schüttelte wehmütig den Kopf. »Was er wirklich gut zu beherrschen schien, war das Gestaltwandeln, obwohl ich ihm zumeist behilflich sein mußte. Jenes Mal jedoch war er entschlossen, es alleine zu versuchen und er verwandelte sich in einen Ziegelstein – ich glaube, er wollte es mit einer Pferdegestalt versuchen. Wie dem auch sei, es gab wie immer den Blitz, dann einen dumpfen Schlag, und schließlich lag er auf dem Boden zu meinen Füßen – ein gewöhnlicher Ziegelstein!«
Alec drückte sich die Hand auf den Mund und bebte vor unterdrücktem Lachen, daß das Bett wackelte. Seregils Kopf bewegte sich auf dem Kissen.
»Nein, mach dir keine Gedanken. Es ist gut für ihn, wenn er unsere Nähe fühlt.« Nysander klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. »Du hattest es nie gerne, an diesen Vorfall erinnert zu werden, nicht wahr? Ah, Alec, wir mögen nun getrost lachen, aber ich versichere dir, damals war es alles andere als komisch. Einen anderen aus einer Gestalt zu befreien, in die er sich selbst gebracht hat, ist außerordentlich schwierig, vor allem, wenn es sich um eine unbelebte Form handelt. Ich brauchte zwei Tage, um ihn zurückzuholen! Ich wußte, daß wir an diesem Punkt hätten aufhören müssen, aber er flehte mich an, ihm noch eine weitere Chance zu geben. Dann gelang es ihm wirklich – er versetzte sich auf eine andere Ebene.«
»Ebene?« Alec hatte Schluckauf und wischte sich die Augen.
»Das ist wie ein anderes Land oder eine andere Welt, aber es gibt sie in unserer Wirklichkeit nicht. Niemand versteht wirklich, warum es sie gibt, aber sie sind da, und es gibt Wege, dorthin zu gelangen. Aber diese Wege sind gefährlich. Am schwierigsten ist es, von dort wieder zurückzugelangen. Wäre ich nicht bei ihm gewesen, wäre er verloren. An diesem Punkt mußte ich ihm befehlen, aufzuhören.«
Nysander blickte auf den schlafenden Seregil, und alle Heiterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. »Das war der traurigste Tag in meinem Leben, lieber Junge. Der Tag, an dem du die Robe des Schülers ablegtest.« Er nahm einen tiefen Schluck. »Du mußt wissen, Alec, da wir keine eigenen Kinder haben, füllen unsere Schüler häufig diese Lücke. Wir geben ihnen unser Wissen und unser Können, und sie tragen unser Andenken in die Zukunft, wenn wir sterben. So war es mit meinem alten Meister und mir. Seregil als Schüler zu verlieren war, als verlöre ich einen geliebten Sohn.«
»Aber habt Ihr ihn denn wirklich verloren?«
»Nein, wie es sich herausstellte, tat ich uns beiden einen guten Dienst, als ich ihm verbot, weiterzumachen, ehe er sich selbst umbrachte. Es zwang ihn auch herauszufinden, wozu er wirklich geeignet war. Aber er ging fort, und lange Zeit wußte ich nicht, ob ich ihn wiedersehen würde. Als er jedoch zurückkam, war er auf dem besten Weg, das zu werden, was er heute ist.«
Alec seufzte. »Was immer das ist.«
»Weißt du es noch nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich möchte es verstehen, damit ich dem, was er mich lehrt, besser folgen kann.«
»Das ist weise. Und ich bin sicher, daß Seregil es dir besser erklären kann als ich, wenn er dazu bereit ist. Ich kann dir jetzt soviel sagen, daß er und Micum Beobachter sind.«
»Beobachter?«
»Eine Art Spion. Keiner von ihnen würde darüber sprechen, nicht einmal untereinander. Aber ich bin das Oberhaupt der Beobachter und kann dir eine Erklärung bieten.«
»Ihr seid ein Spion?« rief Alec überrascht aus.
»Das ist nicht ganz
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