Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
wenn wirklich jemand kommt?«
»Ein Grund mehr, daß du dich beeilst«, erwiderte Alec störrisch. »Ich bleibe außer Sicht – niemand wird merken, daß ich hier bin. Du bist derjenige, der verarztet werden muß. Geh endlich!«
Seregil erkannte an Alecs harten Zügen, daß sich der Junge nicht von seiner Entscheidung abbringen lassen würde. Er schnitt einen schmalen Streifen vom Saum seines Umhangs ab und reichte ihn Alec. »Behalt das bei dir. So kann Nysander dich finden. Und egal, was passiert, du bleibst in Deckung, verstanden? Keine Heldentaten.«
»Keine Heldentaten.«
Durch einen tiefen Seufzer zeigte Seregil an, daß er sich geschlagen gab. »Wenn ich nicht bald zurück bin, gehst du zu den Orëska, in Ordnung?«
»Ja, ja, schon gut! Würdest du jetzt endlich abhauen? Ich habe keine Lust, die ganze Nacht hier zu verbringen.« Damit zog Alec die Kapuze über den Kopf und tauchte in den Schatten unter.
Während Seregil durch die dunklen Straßen zum Orëska-Haus eilte, verschlimmerte sich das Pochen in seinem Kopf, doch es gelang ihm, die Schmerzen zu verdrängen, indem er sich statt dessen um Alec sorgte. Ungeachtet des Vertrauens, das er in den wachen Verstand des Jungen setzte, konnte er die Vorstellung einfach nicht abschütteln, daß Alec von der Stadtwache oder sich anschleichenden Spionen überrascht wurde, die zurückkehrten, um ihr Werk zu überprüfen.
Als er dreckig, triefnaß und voller Blut am Orëska-Haus ankam, mußte er sich noch kurz mit der Wache herumschlagen, ehe er endlich die gewundene Treppe zu Nysanders Turm hinaufhasten konnte.
Thero öffnete die Tür, wich unwillkürlich einen Schritt zurück und bedeckte die Nase mit einem Ärmel. »Bei allen Vieren!« stieß er hervor und versperrte Seregil den Weg. »Du riechst, als wärst du gerade aus der Kloake gekrochen.«
»Sehr treffend bemerkt. Geh mir aus dem Weg.«
»So kommst du hier nicht rein. Geh zuerst runter in die Bäder.«
»Dafür habe ich keine Zeit, Thero. Und jetzt mach Platz oder ich verschaffe ihn mir.«
Die beiden funkelten einander an; unverhohlen trat die jahrelang gehegte, gegenseitige Abneigung zutage. Sollte es zu einem handfesten Streit kommen, konnte jeder dem anderen beträchtlichen Schaden zufügen, und beide wußten es.
»Alec ist allein da draußen, und wir brauchen Nysanders Hilfe«, zischte Seregil.
Nach einem letzten, angewiderten Blick trat Thero beiseite und ließ Seregil in den Arbeitsraum. »Er ist nicht da.«
»Wo ist er?«
»Auf seinem nächtlichen Spaziergang, nehme ich an«, erwiderte Thero brüsk. »Oder hast du das vielleicht vergessen?«
»Dann ruf ihn!« Seregil hielt inne, holte tief Luft und preßte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Bitte.«
Mit einer beiläufigen Handbewegung zauberte Thero einen Botschaftsschimmer aus dem Nichts. Er ließ das winzige Licht über der Handfläche schweben und sprach hinein: »Nysander, Seregil braucht dich auf der Stelle. Er ist im Arbeitszimmer.« Das Licht stob durch den Fußboden davon. Der junge Zauberer bedeutete Seregil, auf einer Holzbank neben einem der Tische Platz zu nehmen, blieb aber selbst stehen.
Thero präsentierte sich tadellos wie immer, stellte Seregil mürrisch fest; die Gewänder unter der Lederschürze waren makellos, die lockigen, schwarzen Haare und der Bart ordentlich gestutzt, die klobigen Finger sauber. Die Vorstellung, daß er selbst, wenn auch nur kurz, einst in diesem Körper gesteckt hatte, ließ ihn sich immer noch innerlich winden. Daran, daß Thero umgekehrt in seinem Körper geweilt hatte, durfte er gar nicht denken.
»Du blutest ja«, stellte Thero schließlich fest und trat zögernd auf ihn zu. »Das sollte ich mir besser ansehen.«
Seregil wich vor seiner Berührung zurück. »Das ist nur ein Kratzer.«
»Du hast eine eigroße Beule über dem Ohr und frisches Blut auf der Wange«, herrschte Thero ihn an. »Was meinst du, würde Nysander dazu sagen, wenn ich dich einfach so hier sitzen lasse?«
Wethis, der junge Bedienstete, brachte sauberes Wasser und Verbandszeug, und Thero machte sich daran, die Wunde zu säubern.
Gerade, als er fertig wurde, kam Nysander zurück.
»Was für ein beispielloser Anblick«, rief der Magier aus, während er an den überall verstreuten Manuskriptstapeln vorbei hereineilte. Er trug ein abgewetztes Oberkleid und eine Hose. Mit einem Anflug von Stolz bemerkte Seregil, wie freundlich und normal sein alter Freund im Vergleich zu dessen stocksteifem Gehilfen
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