Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
nicht?«
Seregil zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Ich hatte Angst, ich könnte mich irren und würde nur sehen, was ich gerne sehen wollte. Aber ich habe mich nicht geirrt – deine Züge, dein Körperbau, die Art, wie du dich bewegst. Micum hat es auf den ersten Blick erkannt, ebenso die Zentauren, Nysander und all die anderen im Orëska-Haus. Dann, in der Nacht, in der wir zum ersten Mal in die Herberge zum Jungen Hahn kamen, bin ich noch einmal weggegangen, erinnerst du dich? Ich habe Illiors Orakel wegen einer anderen Sache befragt, und im Zuge der Weissagung hat es von dir gesprochen und dich ein ›Kind der Erde und des Lichtes‹ genannt – Dalna und Illior, Mensch und ’Faie – es bestand kein Zweifel daran, was es damit gemeint hat. Nysander wollte von Anfang an, daß ich es dir erzähle, aber …«
Da durchbrach gleich einem Donnerschlag eine Woge des Zorns Alecs verstörte Benommenheit. Er sprang auf die Beine, baute sich vor Seregil auf und schrie: »Und warum hast du es mir nicht erzählt? All die Monate, und dir ist kein Wort über die Lippen gekommen! Das ist genau wie damals die Sache mit der Radstraße!«
Eine Hälfte von Seregils Zügen lag im Schatten, die andere wirkte im fahlen Mondenschein knochenbleich, aber beide Augen blitzten. »Das ist ganz und gar nicht wie die Sache mit der Radstraße!«
»Ach nein?« brüllte Alec zurück. »Was denn dann, verflucht noch mal! Warum hast du es mir nicht gesagt?«
Seregil schien in sich zusammenzusacken. Er senkte den Kopf und stützte beide Hände auf die Knie. Nach einer Weile stieß er abgehackt die Luft aus. »Darauf gibt es keine zusammenhängende Antwort. Zum einen, weil ich nicht sicher war.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Tief in meinem Herzen war ich sicher, aber ich habe nicht gewagt, es zu glauben.«
»Warum nicht?«
»Denn hätte ich mich geirrt …« Hilflos breitete Seregil die Arme aus. »Es spielt keine Rolle. Ich war so lange allein gewesen und dachte, es gefiele mir so. Ich wußte, hätte ich recht gehabt und es dir damals erzählt, und hättest du mir überhaupt geglaubt, hätte daraus eine Verbindung, eine Beziehung entstehen können, und auch dieses Wagnis wollte ich nicht eingehen, bevor ich herausgefunden hatte, wer du eigentlich warst. Bei Illiors Händen, Alec, du hast keine Ahnung, du kannst keine Ahnung haben, wie ich mich gefühlt habe, als …«
»Dann sag’s mir!« herrschte Alec ihn an.
»Na schön.« Seregil stieß einen weiteren, schweren Seufzer aus. »Ich bin schon länger von meinem Volk verbannt, als du überhaupt lebst. Noch jeder Aurënfaie, der nach Skala kam, hat gewußt, wer und was ich war, mußte mich aber laut Gesetz meiden. Indes altern und sterben meine menschlichen Gefährten vor meinen Augen.«
»Ausgenommen Nysander und Magyana.«
»O ja.« Nun war es Seregil, der verbittert klang. »Du weißt doch alles über meine Lehrzeit bei ihm, oder? Ein weiterer Fehlschlag, ein weiterer Ort, an den ich nicht gehörte. Dann, aus heiterem Himmel, hast du meinen Weg gekreuzt, und du warst – bist …«
Alec starrte auf die gekrümmte Gestalt vor sich hinunter und fühlte, wie ihm sein Zorn ebenso rasch entglitt, wie er gekommen war. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du es mir nicht erzählen wolltest.«
Seregil schaute wieder zu ihm auf. »Wohl aus Feigheit. Ich wollte den Blick nicht sehen, den du jetzt im Gesicht hast.«
Alec setzte sich neben ihn und vergrub das Antlitz in den Händen. »Ich weiß nicht mehr, was ich bin«, stöhnte er. »Es ist, als wäre alles, was ich je über mich wußte, plötzlich weg.« Er spürte, wie sich Seregils Arm um seine Schultern legte, unternahm jedoch keinen Versuch, ihn abzuschütteln.
»Ach, talí, du bist, was du schon immer warst«, seufzte Seregil und tätschelte Alecs Arm. »Jetzt weißt du es nur, das ist alles.«
»Also werde ich miterleben, wie Beka alt wird, und Luthas und Illia und …«
»Stimmt.« Seregil drückte ihn fester an sich. »Und genauso wäre es, wenn du ein Tírfaie wärst. Das ist kein Fluch.«
»Du redest aber immer so, als wäre es einer.«
»Einsamkeit und ein Außenseiter zu sein, das ist ein Fluch, Alec. Ich habe keinen blassen Schimmer, weshalb wir beide in jener Nacht in derselben Kerkerzelle gelandet sind, aber ich danke Illior seither jeden Tag dafür. Meine größte Angst ist, dich zu verlieren. Meine zweitgrößte, daß du nun, da ich dir endlich die Wahrheit gesagt habe, vielleicht
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