Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
konnte, wieso sollte es ihm dann nicht gelingen?«
Seregil zuckte mit den Schultern. »Das ist ohne weiteres möglich. Ich hatte nicht den Eindruck, daß er jemand ist, der leicht das Handtuch wirft. Aber warum hat er sich noch nicht gezeigt? Mittlerweile sind Monate vergangen, und wenn er auch nur eine leise Ahnung hat, daß die Krone ebenfalls in unserem Besitz ist, wird er – oder jemand wie er – bestimmt früher oder später versuchen, sie wieder an sich zu reißen. Aber da ist noch etwas. Erinnerst du dich an Micums Beschreibung der rituellen Opfer, die er im Fen-Gebirge gefunden hat?«
»All diese aufgeschnittenen Leichen«, sagte Alec und schauderte ein wenig.
»Bei der Krone bin ich auf das gleiche gestoßen. Die Leichen dort waren zwar alt, aber sie wiesen die gleichen Verstümmelungen auf; die Brustkörbe waren gespalten, die Rippen wie Flügel zurückgeschlagen. Nysander behauptet zwar, es könnte sich alles im Sand verlaufen, und es hätte schon immer Hüter und Schäfte und so weiter gegeben, die nur für den Fall der Fälle auserwählt waren, aber er hörte sich alles andere als zuversichtlich an. Deshalb erzähle ich dir all das, und deshalb müssen wir auch Micum warnen. Ich will, daß du morgen rausreitest und ihm berichtest, was ich dir gerade gesagt habe.«
»Was ist mit dir?«
Seregil lächelte düster. »Ich möchte ein Wörtchen mit ein paar alten Kumpels von Tym reden. Wenn die Plenimaraner wirklich vorhaben, sich in Rhíminee einzuschleichen, dann muß irgend jemand etwas darüber wissen.«
»Bei der Sache mit der Kloake haben sie ihre Spuren ziemlich gut verwischt«, erinnerte ihn Alec.
»Ausgenommen Rythel. Bei fast jeder Verschwörung gibt es einen Rythel. Was ich dir gesagt habe, ist einzig und allein für Micums Ohren bestimmt, wenn du nach Watermead kommst. Sieh zu, daß du unter vier Augen mit ihm reden kannst, aber versuch, keinen Verdacht zu erregen. Kari spürt für gewöhnlich, wenn etwas im Busch ist. Und wenn du schon dort bist, frag ihn auch, was er träumt, obwohl er wahrscheinlich nur darüber lachen wird.
Ich weiß, das ist ganz schön viel auf einmal. Wie gesagt, Nysander behauptet, daß vielleicht gar nichts passieren wird, aber ich habe das Gefühl, er glaubt selbst nicht daran. Ich jedenfalls gewiß nicht.«
Verschwommene Bilder wirbelten durch Alecs Kopf, zu verworren, um sie zu erfassen. Dennoch stach hier und da ein Brocken aus dem allgemeinen Maelstrom hervor wie Zweige aus einem Strudel. »Also hat Nysander zumindest zwei Teile dieses Dings, um was auch immer es sich handelt: die Scheibe und die Krone. Aber er muß noch etwas haben, richtig?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, wenn er schon all die Jahre Hüter ist, was hat er dann gehütet?«
Seregils Augen weiteten sich vor Überraschung, als er begriff. »Das ist eine gute Frage. Aber irgendwie bezweifle ich, ob wir die Antwort je erfahren.«
Für den Rest des Tages schlüpften sie in ihre Rollen als Lord Seregil und Sir Alec. Gegen Mittag verließen sie die Villa in der Radstraße und ritten in die Unterstadt, um ein bestimmtes Freibeuterschiff in Augenschein zu nehmen, das hinter den Kais vor Anker lag. Rhals Untergebener wartete immer noch im Griffin. Obwohl er einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in der Taverne zugebracht hatte, erwies er sich als nüchtern genug, um sie zum Schiff hinauszurudern.
»Das is’ sie«, meinte er stolz und deutete mit dem Kopf über die Schulter, während sie auf ein schnittiges, zweimastiges Kaperschiff zufuhren. Die Grüne Lady wies vorne und achtern Kampfplattformen auf. Sogar Alecs laienhaftem Auge offenbarte sich der Hauptzweck des Zweimasters auf den ersten Blick.
»Bei Bilairy, was soll das denn sein?« fragte Seregil, als sie unter dem Bug hindurchtrieben. Unter dem Bugspriet war die bemalte Statue einer Frau befestigt.
»Eine Galionsfigur«, erwiderte Welken. »Viele neue Schiffe haben eine. Bringen angeblich Glück. Käpt’n Rhal hat den besten Holzschnitzer von Iolos für unsere Lady angeheuert; sie hat sogar einen echten goldenen Ring am Finger, in dem ein großer, roter Stein funkelt. Der Käpt’n meint, ihr runder Bauch wird für einen vollen Laderaum sorgen.«
Dunkles Haar wallte über die Schultern der Frau, und der geschnitzte Rock ihres smaragdgrünen Kleides floß unter einem runden, schwangeren Bauch nach hinten. Eine ausgestreckte Hand deutete voraus, die andere ruhte bescheiden auf dem Herzen.
Ein breites Grinsen trat in Alecs Züge,
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