Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
die langen Korridore und Treppen hinabstieg, nickte er den Leuten zu, die er traf und blieb gelegentlich für ein kurzes Schwätzchen stehen. Er hatte nie ein Geheimnis aus seinen nächtlichen Spaziergängen gemacht. Ob über die Jahre hinweg wohl jemandem aufgefallen war, daß er selten zweimal denselben Weg einschlug? Daß es trotzdem stets eine Stelle, einen bestimmten Abschnitt einer kahlen, jungfräulichen Wand gab, an der er jedesmal vorbeikam?
Und wie viele jener anderen Zauberer, fragte sich Nysander, während er weiterging, wachten so wie er über ein dunkles Geheimnis?
Nachdem er das unterste Geschoß erreicht hatte, begab er sich noch vorsichtiger als gewöhnlich durch das Labyrinth der Gänge zu jenem Ort, wenngleich seine sorgsam gewobenen Beschwörungen die Schatulle, die er bei sich trug, jedermanns Wahrnehmung entzogen.
Er vergewisserte sich, daß niemand ihn beobachtete, dann neigte er das Haupt, entfesselte eine Woge der Macht und sprach leise den Durchgangszauber. Ein Gefühl gleich einem Gebirgswind sauste auf ihn nieder und erfüllte ihn mit Grabeskälte. Die schmutzige Schatulle an die Brust gedrückt, trat er durch das dicke Mauerwerk in die winzige Kammer, die sich dahinter verbarg.
5
Ankünfte
Alec kniff die Augen zusammen, als Sonnenlicht von dem blankpolierten Festgong unter seinem Arm zurückprallte. Er verlagerte den Griff und kämpfte sich den Rest der Leiter hinauf, die an die Vorderseite der Villa gelehnt stand.
»Also wirklich, Sir Alec, das ist doch nicht nötig. Um derlei Kleinigkeiten kümmern sich immer die Bediensteten!« rief Runcer aufgeregt vom Gehsteig herauf, sichtlich entrüstet darüber, daß sein Meister öffentlich eine derart niedere Arbeit verrichtete, doch machtlos, etwas dagegen zu unternehmen.
»Ich hab’ eben gerne was zu tun«, gab Alec ungerührt zurück.
Widerwillig war er am Vortag wieder in seine offizielle Rolle in der Radstraße geschlüpft. Das Sakorfest begann heute nacht, und ob Seregil nun hier war oder nicht, Sir Alec hatte zu erscheinen. Offenbar war Runcer fest entschlossen, Alec in Seregils Abwesenheit als Herrn des Hauses zu betrachten, was Alec ganz und gar nicht behagte. Es widerstrebte ihm, verhätschelt zu werden, doch jeder Bedienstete des Hauses schien es schon als persönliche Beleidigung zu empfinden, wenn er sich selbst Wasser zum Waschen holte oder ein Pferd sattelte.
Alec hielt sich an dem in die Mauer eingelassenen Holzbalken fest und schlang die ledernen Hängeriemen des Gongs darüber. Sie hielten, und der Gong schaukelte sanft in der morgendlichen Brise hin und her, ein rechteckiger Schlachtschild, auf dem das aufwendig gestaltete Sonnensymbol Sakors prangte.
Runcer reichte ihm ein schwarzes Tuch herauf, mit dem Alec den Schild sorgfältig verhüllte.
Überall in der Stadt wurden ähnliche Gongs aufgehängt. Die Nacht der Trauer, die längste Nacht des Jahres, begann mit Feierlichkeiten vor dem Sakortempel. Dort würde der symbolische Tod des alten Gottes in Szene gesetzt werden, danach würden sämtliche Feuer der Stadt gelöscht, bis auf einen einzigen Feuertopf, den die Königin und ihre Familie im Tempel hüteten. Am nächsten Morgen würden beim ersten Zeichen der Dämmerung die Gongs enthüllt und geschlagen, um den auferstandenen Gott willkommen zu heißen, während Läufer das Neujahrsfeuer an jeden Herd tragen würden. Diese Zeremonie würde in ähnlichen Formen in ganz Skala abgehalten werden.
Alec war gerade auf halbem Wege die Leiter hinab, als ein Reiter klappenden Hufes um eine Ecke bog und sich die Straße herunter näherte. Als er Seregils glänzende Aurënfaie-Stute erkannte, sprang der Junge den Rest hinunter und rannte seinem Freund entgegen.
Seregil bremste Cynril auf Schrittgeschwindigkeit und musterte Alec mit gerunzelter Stirn, während er weiter auf ihn zuritt. »In Hemdsärmeln auf der Straße wie ein gewöhnlicher Arbeiter? Was werden die Nachbarn dazu sagen?«
»Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, Herr«, meinte Runcer verbindlich, als Seregil nah genug war.
»Ich schätze, sie werden sagen, ich neige eher zu ehrlicher Arbeit als mein Beschützer, dieser Geck«, erwiderte Alec lachend. Er war zu erleichtert darüber, daß Seregil wohlbehalten nach Hause kam, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was andere denken mochten.
Wo auch immer Seregil gewesen sein mochte, er hatte sich sorgfältig für die Rolle des heimkehrenden Lords gekleidet. Die schlammbespritzten Stiefel und
Weitere Kostenlose Bücher