Schattengold
Profanbau aus dem 13. Jahrhundert. Zwar konnte Girona mit seiner Kathedrale und der Casa de Pia Almoina ebenfalls wertvolle gotische Gemäuer aufweisen. Ihn beeindruckte hier vor allem die architektonische Einheit des Hospitals in der direkten Nachbarschaft mit der hochragenden Jakobikirche, den historischen Pastorenhäusern und dem in einem Anbau versteckten kleinen Buchladen.
Hier erstand Fernando seinen ersten deutschen Roman, eine Erzählung von einem bekannten Lübecker Dichterfürsten. Leider verstand er nicht viel, obwohl er nun schon seit fünf Jahren Deutsch lernte. Zu viele unbekannte Adjektive, zu viele seltene Adverbien, zu komplizierte Satzstrukturen und eine Ansammlung von Metaphern, die nicht einmal ein Muttersprachler so leicht verarbeiten konnte.
»¡Vaya joyas!«, rief Ángela, als sie vor der Vitrine des Goldschmieds Adrian Ampoinimera stehen blieb. Der scheinbesorgte Hinweis ihres Mannes, man würde das Flugzeug verpassen, wenn man sich nicht sputete, verfehlte seine Wirkung. Trotzig betrat sie den Laden. Obwohl dort Schätze offen herumlagen, stand niemand hinter dem Tresen. In Lübeck gab es offensichtlich keine Diebe.
»Los alemanes parecen ser personas honradas. En esta ciudad tan acogedora no hay ningún ladrón.«
Sie ahnte nicht, dass die Augen des goldenen Vogels, der oben auf einem Regal stand, mit zwei Minikameras ausgerüstet waren. Ángela betätigte eine Handglocke. Geraume Zeit später erschien der Uhrmachergeselle.
»Ja?« Wie immer war er Fremden gegenüber recht wortkarg.
Die weitere Diskussion verlief ebenso. Raik verstand kein Spanisch und Ángelas Deutschkenntnisse hielten sich in engen Grenzen. Zum Bierbestellen reichte es, nicht aber zum Einkauf in einem edlen Juwelierladen.
Endlich fand sie das Richtige. Der geklöppelte Goldschmuck, der an einer schlichten Kette hing, hatte die Form einer exotischen Riesenspinne, in deren Mittelpunkt ein blaustichiger Diamant thronte.
Das kostbare Geschmeide riss eine beachtliche Lücke in Fernandos Geldbeutel. Als Trost erlaubte sie ihm, die Kette persönlich um ihren Hals über den dunkelbraunen Rollkragenpulli zu hängen. Stolz verließen sie den Laden und begaben sich in Richtung Holstentor, der letzten Sehenswürdigkeit, die auf ihrem heutigen Besichtigungsprogramm stand, bevor der Flieger nach Girona startete. Ángela fühlte die neidischen Blicke der Passanten. Sie bemerkte allerdings nicht, dass ihr eine männliche Gestalt unauffällig folgte.
An der Ampel vorm Holstentor mussten sie zusammen mit einer Handvoll Fußgänger bei Rot stehen bleiben. Der Verfolger drängte sich dicht hinter Ángela. Vorsichtig öffnete er den Verschluss der Halskette, zog sie behutsam zur Seite und steckte sie schnell in seine Manteltasche.
Die Frau hatte wegen des Pullis nichts gespürt. Die Rotphase dauerte Fernando zu lange, also widmete er seiner teuren Frau einen kurzen Kontrollblick.
Die kostbare Kette war verschwunden!
»¡Ángela, tu collar!«
Ángela erschrak und fasste sich an den nunmehr ungeschmückten Rollkragenpulli.
»¡Ay, por Dios, que me han robado el collar!«
Der Dieb verriet sich durch eine hastige Bewegung seitwärts.
»¡Al ladrón!«
Leider verstanden die Umstehenden, die kein Spanisch sprachen, nicht sofort, was passiert war. Der Dieb nutzte den Augenblick der Verwirrung, um sich schnellen Schrittes abzusetzen und dann in Richtung Wallanlagen zu laufen. Das Ehepaar Sánchez-Ruiz blieb ihm, unterstützt von ein paar Passanten, auf den Fersen.
»¡Socorro! – ¡Al ladrón!«
Der Dieb eilte die Böschung hinunter in ein dichtes Gebüsch, öffnete eine Eisentür und verschwand blitzschnell in einem dunklen Schacht.
Die Verfolger kamen dicht heran, konnten aber nichts mehr ausrichten, denn die Tür fiel vor ihrer Nase donnernd zu. Sie hörten nur noch, wie jemand von innen den Riegel zuschob.
Damit fand die Jagd ein abruptes Ende. Nun war guter Rat teuer. Die Kommunikation unter den nach Luft schnappenden Menschen gestaltete sich eher schwierig. Einem jungen Mann fiel ein Wort ein: »Policía.« Mit einer eindeutigen Geste forderte er die beiden Spanier auf, ihm zu folgen.
Ángela war zutiefst enttäuscht. Also gab es doch Diebe in dem so romantischen Lübeck! Fernando fürchtete, nicht mehr rechtzeitig zum Check-in am Flughafen zu kommen. Aber schließlich war die Kette wesentlich teurer als ein neues Flugticket.
*
In der zentralen Polizeistation hinter dem Marktplatz war die Hölle los. Ein
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