Schattenherz
menschenleer waren.
Schon das allein kam ihm verkehrt vor. Angeblich hielt sich König Ordens Oberster Berater und Stratege, Paldane, der Jäger, in Carris auf. Man hätte erwarten sollen, seine Truppen über die Hauptstraße eilen zu sehen, während sie sich für die bevorstehende Schlacht in Stellung brachten.
Als sie durch Espen und Fichtenhaine von den Bergen herunterritten, nahm sich Roland ein paar Augenblicke Zeit und setzte sich auf einen Felsen, um die steinübersäte Ebene unter ihnen nach Soldaten abzusuchen. Zwischen einigen Bachläufen lagen dichte Schwaden morgendlichen Nebels, der so dicht war, daß sich eine Armee darin hätte verstecken können. Dahinter gab es überreichlich viele Stellen im Gelände, wo sich eine Armee verborgen halten könnte – an einer Reihe von Stellen erhoben sich bewaldete Hügel über der Ebene, und zwischen zwei Ausläufern eines Berges weiter westlich gab es ein tiefes Tal. Überall sah man Städte und kleinere Ortschaften.
Barrens Wall oben im Norden war acht Meilen breit und erstreckte sich zwischen zwei großen Hügeln. In grauer Vorzeit war dieses Gebiet zwischen Muttaya und Mystarria sehr umkämpft gewesen. Daß Mystarria nicht immer gesiegt hatte, zeigte sich vor allem in der uneinheitlichen Architektur – in den Orten fand man mit Kuppeln versehene Gutshäuser mit ummauerten Veranden und Teichen. Die Straßen waren breiter als in Tide, wo Roland großgezogen worden war.
Auch in den Namen der Dörfer spiegelte sich die
wechselvolle Geschichte des Landes wider. Dörfer wie Hinterhalt, Gillens Sturz und Rückzug lagen Seite an Seite mit Ortschaften namens Aswander, Pastek und Kishku. Alles in allem, dachte Roland, nachdem er die Landschaft betrachtet hatte, hatte ein Stratege wie Paldane, der Jäger, damit ein ausgezeichnetes Gelände für seine Soldaten ausgewählt.
Mehrere Festungen konnten als Sammelpunkte dienen. Er stellte sich vor, wie sich ein Bogenschütze hinter steinernen Mauern verstecken ließ oder sich berittene Truppen hinter den Toren eines größeren Bergfrieds verbargen.
Und doch konnte er in der Ebene unten nichts entdecken, was auf Armeen hingedeutet hätte – kein Blitzen der Morgensonne auf einer Rüstung, kein Rauch, der über Lagerfeuern aufstieg, keine Prunkzelte eines Lords, die in einem entlegenen Tal aufgeschlagen waren.
Tatsächlich wirkte die Gegend oberhalb von Carris wie ausgestorben. Roland, Baron Poll, Averan und die grüne Frau standen fünfzehn Minuten lang auf einer Kuppe und schauten blinzelnd in das unter ihnen liegende Tal.
Roland konnte Hunderte von Bauernhäusern erkennen, dazu Heuschober in großer Zahl. Felder überzogen das Land mit einem Schachbrettmuster – ein Weingarten unterteilte ein Feld in Streifen, während Hopfen das nächste dunkel färbte.
Die Gehöfte waren von Steinmauern umgeben. Von hier oben war deutlich zu erkennen, daß es in Carris Steine im Übermaß gab, genug, um Häuser und Mauern zu errichten, trotzdem blieben noch so viele übrig, daß die Bauern sie an manchen Stellen einfach übereinandergeschichtet hatten. Diese muttayinischen Sonnenkuppeln – kreisrunde Krematorien, aus Stein als Ebenbild der untergehenden Sonne erbaut – waren auf vielen Hügeln zu erkennen. Sie waren charakteristisch für die früheren Schlachtfelder. Carris war ein altes Land.
Es hieß, die Festung reiche in eine Zeit vor die letzte Erinnerung der Menschen zurück, als Erden Geboren mit seinen einhunderttausend Rittern hergeritten war, um sie zu verteidigen. Viele dieser Sonnenkuppeln unten dienten als Verbrennungsöfen, in die die erobernden Armeen die Unterlegenen geworfen hatten. Solche Orte wurden
zweifelsohne von Wichten heimgesucht.
Doch falls es hier Wichte gab, schien das die Einheimischen nicht zu stören. Carris selbst, noch gut zwanzig Meilen entfernt, war aus dieser Entfernung schwer auszumachen.
Man hatte die alte Festung auf einer Halbinsel in einem tiefen See am Horizont erbaut. Über dem Wasser lag dichter Nebel, die Festung jedoch ragte daraus hervor, und ihre Granitwände und hohen Wachtürme leuchteten golden in der Dämmerung.
Morgendliche Kochfeuer hinterließen eine dünne Rauchspur, die über der Anlage hing.
Ein Graak strebte über der Burg nach oben, einen
Himmelsgleiter auf dem Rücken. Averan seufzte, als hätte sie selbst gerne auf dem Tier gesessen.
In der Nähe jedoch stieg über keinem der Kamine in den Häusern Rauch in die Höhe. Kein Wind wehte. Auf den Feldern stand
Weitere Kostenlose Bücher