Schattenherz
einfach.
»Ich reise nach Süden«, sagte sie schließlich. »Du könntest mit mir zusammen auf meinem Pferd reiten. Aber zuerst mußt du ein Bad nehmen und dir ein paar anständige Kleider anziehen.«
Der Junge blickte verwundert auf, denn ein Waisenkind wie er hätte sich niemals eine solche Gunst zu erhoffen gewagt.
Noch während er aufsah, überkamen Iome Bedenken. Es war keine fünf Minuten her, da hatte Gaborn seine letzte Warnung geschickt.
Myrrima hatte, zusammen mit Jureem, die Burg bereits verlassen. Nach Iomes Einschätzung war es jedoch erst kurz nach zwei. Bis zum Einbruch der Nacht waren es noch Stunden. Fast hätte sie ihren Traum verwirklicht. Bald hätte sie die ganze Burg durchsucht und auch den letzten Untertanen aufgelesen und nach Süden geschickt. Zwei weitere Stunden, und es wäre ihr gelungen.
»Lauf hinauf in den königlichen Bergfried«, trug Iome dem Jungen auf. »Im obersten Stock gehst du in den linken Flur.
Dort findest du meine Gemächer. Schau in die Kleiderkammer und nimm dir ein ordentliches Hemd und ein Reisegewand, anschließend wasche dich im Pferdetrog dort hinten im Hof.
Wenn du damit fertig bist, kommst du zurück und wartest, bis wir aufbrechen.«
»Ja, Euer Lordschaft«, antwortete der Junge. Iome zuckte zusammen, als er sie mit einem männlichen Titel bedachte. Er sprang auf, hinkte halb, halb lief er mit seinem verdrehten, plumpen Fuß die Marktstraße hinauf.
Iome schloß die Augen und kostete den Augenblick aus.
Noch zwei Stunden. Länger würde es nicht dauern, die Stadt zu räumen.
Dann hallte ihr Gaborns Warnung durch den Kopf.
»Versteckt Euch! Zum Fliehen ist es zu spät! Versteckt Euch –
Ihr alle!«
Iome fuhr aus ihrem vergoldeten Sessel hoch. Von dieser Stelle des Innenhofes versperrten ihr die Burgmauern nach allen Seiten den Blick.
Doch ein Wächter auf dem Torturm rief: »Euer Hoheit – es nähert sich von Süden – ein gewaltiger Schatten über den Wolken.«
Er hatte den Satz noch nicht beendet, als es über dem Dunnwald krachend donnerte. Blitze zuckten. Iomes Pferd tat einen Sprung und scheute.
Sir Donnor packte die Zügel von Iomes Stute und stieg auf sein Pferd, genau wie Iomes Days.
»Euer Hoheit«, brüllte er, »wir müssen fort!«
»Versteckt Euch!« befahl sie ihm, überrascht, daß er fliehen wollte – wo der Erdkönig ihnen doch befohlen hatte, sich zu verstecken.
»Aber wir haben schnelle Pferde«, bedrängte Sir Donnor sie,
»schneller als alles, was fliegt.«
Iome rechnete nach. Vierzehn Stunden war es her, daß Raj Ahtens Flammenweber den Glorreichen der Finsternis aus der Unterwelt herbeigerufen hatten. Sie hatten in der Nähe von Carris gestanden, was einer Entfernung von fast siebenhundert Meilen entsprach.
Der Glorreiche der Finsternis war mit kaum weniger als fünfzig Meilen in der Stunde hierher gefolgt, und Iome hatte nicht die geringste Vorstellung, wie oft er haltgemacht haben mochte, um sich auszuruhen oder Nahrung aufzunehmen.
Vielleicht hat Sir Donnor recht, überlegte sie. Ein schnelles Kraftpferd könnte ein solches Wesen hinter sich lassen – ach, warum versuche ich, mir etwas vorzumachen? Das Risiko würde ich niemals eingehen.
»Versteckt Euch!« erreichte Gaborns Warnung sie erneut.
Iome rannte los und sprang auf ihre Stute. Sir Donnor wendete sein Pferd und galoppierte zum Stadttor hinaus, über die Zugbrücke und fort von Burg Sylvarresta, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Er war sicher, sie würde nachkommen. Iomes Days galoppierte dicht hinter ihm, doch nach all den Jahren, in denen sie die Mitglieder der königlichen Familie nicht aus den Augen gelassen hatte, riskierte die matronenhafte Frau kurz einen Blick über die Schulter und bemerkte, daß die Königin nicht folgte. Das Gesicht der Frau wirkte entsetzt, bleich vor Angst.
Aber Iome konnte den klumpfüßigen Jungen nicht
zurücklassen. Das Kind hatte den Erdkönig noch nie gesehen, hatte nie die Gelegenheit gehabt, Erwählt zu werden. Er würde nicht die geringste Warnung hören, bevor der Tod ihn ereilte.
»Ich gehe den Jungen holen!« rief sie.
Iome wandte ihre Stute herum und galoppierte die
Marktstraße hinauf. Die Hufe des Tieres klapperten auf dem Pflaster, und sein Atem wehte heiß aus seiner Schnauze.
Ihre Days folgte einhundert Meter hinter ihr. Sie suchte die Straße nach dem Jungen mit dem Klumpfuß ab, hoffte, er habe den königlichen Bergfried noch nicht erreicht, denn er stand oben auf dem Hügel, und sie konnte
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