Schattenherz
Borenson nickte, und seine blassen blauen Augen wurden hart wie Stein.
»Verratet mir«, blaffte der Hauptmarschall, »ist Gaborn Val Orden wahrhaftig der Erdkönig?«
Jetzt erkannte Myrrima, worum es wirklich ging. Der Hauptmarschall hatte es nicht auf das Leben ihres Gemahls abgesehen, sondern nur auf dieses Wissen. Das war für ihn wichtig genug, um bereitwillig sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen.
Ein Ritter, der sich auf dem Schlachtfeld ergab, war durch seine Ehre dazu verpflichtet, die Wahrheit zu sprechen.
Borenson würde jetzt aufrichtig antworten, solange er mit seiner Antwort nicht seinen Lord verriet.
Der Hauptmarschall brüllte so laut, daß alles auf dem Turnierplatz verstummte, um die Antwort zu vernehmen.
Borenson antwortete mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Er ist tatsächlich der Erdkönig.«
»Das bezweifle ich…«, erwiderte der Hauptmarschall. »In Süd-Crowthen sind mir seltsame Gerüchte zu Ohren
gekommen. Dort erzählt man sich, Euer König habe im Haus des Verstehens, im Saal der Gesichter und im Saal des Herzens studiert – er habe die Kunst der Verstellung an einem Ort studiert, wo ein unehrlicher Mann eher die Kunst der Täuschung lernt. Und dann, am selben Tag, an dem er verkündet, er sei der neue Erdkönig, ist seine erste Tat ein ausgefeiltes Täuschungsmanöver, mit der er Raj Ahten aus diesem Land vertreibt! Viele halten es für ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß der junge Orden ›zufällig‹ genau da Erdkönig wird, wo Heredon ihn am meisten braucht. Die Geschichte scheint mir doch zu praktisch, so als wolle man mit ihr die Hoffnung der Landbevölkerung schüren. Ich frage Euch also ein zweites Mal, ist er wahrhaft der Erdkönig – oder ist er ein Gaukler?«
»Bei meiner Ehre und bei meinem Leben, er ist der Erdkönig.«
Doch der Hauptmarschall grollte: »Einige bezeichnen ihn als Schuft ohne naturgegebene Eigenschaften. Andere fragen sich, wieso er aus Longmot geflohen ist und seine Männer und seinen Vater durch die Hand von Raj Ahten hat sterben lassen.
Wenn er tatsächlich der Erdkönig ist, hätte er Raj Ahten doch sicher Widerstand leisten können. Ihr kennt den Jungen seit Ewigkeiten – habt ihn von klein an aufgezogen. Wie lautet Eure Meinung?«
Borensons Stimme bebte vor Wut. »Tötet mich auf der Stelle, lausiger Knappe, aber ich werde mir keine vergifteten Lügen anhören, die dieser Narr König Anders verbreitet!«
In diesem Moment erhob sich leises Getuschel, und viele Zuschauer blickten zum anderen Ende des Turnierplatzes, von dem aus Sir Skalbairn losgeritten war. Am Tor dort stand ein hochgewachsener Mann in einem eleganten Gewand. Er hatte strähniges blondes Haar, ein scharfgeschnittenes Gesicht und eine finstere Ausstrahlung. Er wirkte wie dreißig, aber wenn er Gaben des Stoffwechsels übernommen hatte, könnte er weit jünger sein. Myrrima hatte ihn noch nie zuvor gesehen und hätte ihn in einer Menschenmenge nicht bemerkt, doch jetzt wisperten die Menschen: »Prinz Celinor.«
»Anders Sohn.«
Der Hüne grinste unbarmherzig und blickte zu Prinz Celinor hoch, als wolle er dessen Zustimmung einholen. Der Prinz nickte und schien zufrieden.
Aha, erkannte Myrrima. König Anders’ Sohn steckte also hinter alledem. Aber wollte er tatsächlich nur bestätigt haben, ob Gaborn der Erdkönig ist, oder hatte dies Schauspiel den Zweck, Zweifel in den Seelen der Landbevölkerung zu säen?
War letzteres der Grund, hätte er sich keinen besseren Schauplatz für das Spektakel als hier mitten unter den kleineren Lords aussuchen können.
Hauptmarschall Skalbairn steckte sein Messer in die Scheide und bot Sir Borenson die Hand. »Dann erhebt Euch, Sir Borenson. Ich möchte diesen jungen König selbst in Augenschein nehmen.«
In wenigen Augenblicken hatte sich die Arena mit jungen Burschen und minderen Edelleuten gefüllt, die den
Hauptmarschall bewundern wollten, jenen Mann, der Sir Borenson überwältigt hatte.
Einige gingen, um seine Lanze zu holen, andere, um ihm sein Pferd zu bringen.
Borenson erhob sich wankend, und niemand dachte daran, ihm Trost anzubieten oder ihm zu einem guten Kampf zu gratulieren. Statt dessen ging er zu seiner zersplitterten Lanze und kniete nieder, um Myrrimas roten Schal loszubinden, das Zeichen ihrer Gunst.
Myrrima kletterte über das Geländer an der Arena und fand sich in dickstem Schlamm wieder. Der Matsch war so tief, daß sie beinahe steckenblieb.
Sie eilte unter Mühen zu Borenson und
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