Schattenherz
Worte aus dem Buch, das der Emir Owatt von Tuulistan verfaßt hatte – nicht über die verbotenen Worte aus dem Haus des Verstehens, sondern über ein dummes Gedicht, das von Selbstverständnis handelte.
Er hatte es sich nicht vollständig eingeprägt und erinnerte sich nur mehr an zwei Zeilen:
Liebe und Geliebte werden nicht immer überdauern, und dennoch wähle ich die Liebe.
Und ob ich auch falle und die Schlacht verliere, dennoch wage ich den Kampf.
Wie der Emir, so sah auch Gaborn Weisheit im Streit. Das Universum war ein mächtiger Feind. Eines Tages holte der Tod jeden Menschen ein. Doch solange er lebte, besaß Gaborn die Freiheit der Entscheidung, was für ein Mensch er werden wollte. Wichtiger war noch, ob er mit diesem Mann leben konnte.
Seine Gedanken schweiften zu dem Emir Owatt von
Tuulistan ab. Das kleine Buch, welches der König Sylvarresta übersandt hatte, schlug ihn in seinen Bann. Offensichtlich war der Emir ein Juwel unter den Menschen. Und im Augenblick setzte Gaborn alle Hoffnung auf dessen Tochter Saffira.
Das Flackern eines Geisterlichts, ein schimmernder, gräulicher Lichtschein oben auf dem Hügel am Rand des Dunnwaldes, genau an der Baumgrenze, erregte seine Aufmerksamkeit.
Dort in der Dunkelheit saß auf seinem gespenstischen Roß ein Wicht und blickte unverwandt zur Burg und den
dichtgedrängten Menschenmassen herüber.
Er wacht über mein Volk, erkannte Gaborn, genau wie ich es ihm befohlen habe. Wie ein Schäfer oben auf dem Berg, der nachts seine Herde beobachtet.
Aus einer so großen Entfernung konnte Gaborn nicht
erkennen, wer es war. Er stellte sich vor, es sei der Geist von Erden Geboren selber oder vielleicht sein eigener Vater.
Jetzt vermißte er den Rat seines Vaters.
Im Hintergrund des Zimmers räusperte sich sein Days.
Gaborn drehte sich um, betrachtete den Mann im Schatten und fragte sich, was der wußte.
»Was haltet Ihr von unseren Plänen? Habe ich meine Sache heute gut oder schlecht gemacht?«
»Das vermag ich nicht zu sagen«, antwortete der Days in einem Ton, der Gaborn nicht das geringste verriet.
»Angenommen, ich wäre im Begriff zu ertrinken, einen Fuß vom Ufer entfernt, würdet Ihr mich retten?« fragte Gaborn.
»Ich würde in meinen Aufzeichnungen jenen Augenblick festhalten, in dem Ihr zum letzten Male untergingt«, erwiderte sein Days, den das Spiel sichtlich amüsierte.
»Und wenn die Menschheit mit mir unterginge?« wollte Gaborn wissen.
»Das wäre ein trauriger Tag für die Bücher«, meinte der Days ein wenig ernster.
»Wo befindet sich Raj Ahten? Welche Pläne verfolgt er?«
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete der Days. »Ihr werdet das alles nur zu bald wissen.«
Eben das bezweifelte Gaborn. War Raj Ahten ebenfalls nach Norden geeilt? Rückte er womöglich zusammen mit dem Glorreichen der Finsternis an? Oder plante er noch Schauderhafteres?
»Euer Hoheit, dürfte ich Euch eine Frage stellen?« sagte der Days.
»Natürlich.«
»Habt Ihr, Euer Hoheit, jemals das Schicksal der Days bedacht? Habt Ihr daran gedacht, ob Ihr mich – oder einen anderen Days – Erwählen wollt?«
Gaborn ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, sah dem Mann in die Augen, blickte hinter sie und sah die Hoffnungen und Träume des Days.
Er hatte in das Herz seines Vaters geblickt und erkannt, daß es rein war. Er hatte in das Herz von Molly Drinkhams Kind geblickt und gesehen, daß es keine Liebe empfand – lediglich Dankbarkeit für die Brust der Mutter, für die Wärme ihres Körpers und ihre freundliche Art, wie sie es in den Schlaf sang.
Doch selbst dieses Kind mit seinen unbestimmten
Sehnsüchten erschien Gaborn klarer und verständlicher als der Days.
Mit Hilfe des Erdblicks sah er vor sich nicht etwa einen Mann, sondern einen Mann und eine Frau – eine Frau mit Feder und Pergament, mit weizenblondem Haar und smaragdgrünen Augen.
Gaborn wäre nie auf die Idee gekommen, der Schreiber seines Zeugen könne eine Frau sein. Jetzt sah er, daß die beiden einander liebten, daß sie, weil sie einen gemeinsamen Verstand teilten, ein Glück und eine Intimität empfanden, die Gaborn nie vermutet hatte.
Er blickte noch tiefer und erkannte, daß sie noch mehr als das gemeinsam hatten – eine Vorliebe für alte Erzählungen, Heldentaten und Lieder eine kindliche Freude darüber, zu betrachten, wie sich die Ereignisse entwickeln, ganz wie ein alter Gärtner, der gerne zusieht, wie die ersten Krokusse des Frühlings ihre weißen
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