Schattenjahre (German Edition)
Eitelkeit der Frauen, dachte er zynisch. Ohne Überraschung hörte er sie mit hoher, belegter Stimme entgegnen: „Nein, danke, ich muss fahren. Meine Tochter wird sich schon fragen, wo ich so lange bleibe.“
Aber nicht, wo sie gewesen war. Er kannte die traumatische Wirkung, die eine Geisteskrankheit auf die Angehörigen der Patienten ausübte, und er wusste, in welcher seelischen Verfassung Mrs Danvers das Pflegeheim verlassen hatte. Wenn ihr diese Besuche so zusetzten – warum kam sie dann allein nach Fellingham? Er wurde hin und her gerissen zwischen Zorn und Sorge. Wenn sie dumm genug war, sich einzubilden, er wollte einen Annäherungsversuch unternehmen, dann verdiente sie sein Mitleid nicht … Was mochte mit ihm los sein? Steckte irgendwas in seinem Wesen, das ihn zwang, seine Menschlichkeit allmählich abzutöten, oder war es einfach nur ein Symptom der modernen Zeit?
Faye beobachtete ihn und wünschte, er würde aus dem Auto steigen. Er hatte sie verletzlich und schutzlos gesehen, deshalb fühlte sie sich bedroht und verängstigt. Und was für ein unglückseliger Zufall hatte ihn überhaupt nach Fellingham geführt?
„Nun, wenn Sie sicher sind, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist …“, sagte er kühl.
„Alles in Ordnung“, log sie. Warum verschwand er nicht endlich? Merkte er denn nicht, wie sehr er ihre Nerven strapazierte?
Er versuchte es ein letztes Mal. „Wenn Sie sich nicht gut fühlen, wäre es vielleicht besser, nicht zu fahren.“
Nur selten verlor sie die Beherrschung, aber jetzt war sie nahe daran. Die angestauten Emotionen verkrampften ihren ganzen Körper. „Sie sind Liz’ Arzt, nicht meiner“, fauchte sie. „Und ich brauche Ihren Rat nicht.“
„Und meine Gesellschaft wohl auch nicht. Gut, dann gehe ich jetzt.“
Sie sah ihm an, wie ärgerlich er war, während er ausstieg. Ein wenig schuldbewusst schaute sie ihm nach.
Alaric war mehrere Meilen gefahren, ehe er registrierte, dass er das Tempolimit überschritt. Sofort drosselte er die Geschwindigkeit und versuchte sich zu entspannen. Alberne Person – und wie dumm von ihm, ihr seine Hilfe anzubieten! Glaubte sie denn wirklich, er wäre, hätte er sie attraktiv gefunden, nicht ein bisschen raffinierter vorgegangen?
Wenn er sie attraktiv gefunden hätte … Er runzelte die Stirn, mochte sich die widersprüchlichen Gefühle, die diese rätselhafte Frau in ihm erregte, nicht eingestehen. Wo er sie doch kaum kannte …
12. KAPITEL
Sage seufzte. Sie hatte beabsichtigt, an diesem Vormittag ein paar Vorbereitungsskizzen für einen ihrer nächsten Aufträge anzufertigen. Den guten Ruf ihrer originellen Wandmalereien hatte sie nicht über Nacht erworben. Und sie konnte es sich nicht leisten, ihre Arbeit völlig zu vernachlässigen, so gern sie ihre Zeit auch mit anderen Dingen verbracht hätte. Zum Beispiel mit den Tagebüchern ihrer Mutter …
Sie hatte den Bleistift beiseitegelegt und griff nicht mehr danach. Was faszinierte sie so an diesen Aufzeichnungen? Sie öffneten die Tür zu einer unbekannten Welt, zur Jugend ihrer Mutter. Mühelos konnte sich Sage in jene Zeit voller Schwierigkeiten und Belastungen hineinversetzen. Früher war sie Liz nie nähergekommen. Und jetzt entdeckte sie hinter den Etiketten „Mutter“ und „treu sorgende Ehefrau“, die sie ihr aufgeklebt hatte, eine Geschlechtsgenossin, für die sie Mitleid und Verständnis empfand. Wusste die Mutter, wie aufschlussreich die Tagebücher waren? Nicht durch die Worte an sich, eher durch die Gefühle, die aus gewissen Aussagen und Verhaltensweisen anderer Personen sprachen. Wusste Liz, wie abhängig Edward von ihr gewesen war, dass er sie innig geliebt hatte, trotz seiner Unfähigkeit, diese Gefühle körperlich auszudrücken?
Sage starrte auf ihren Skizzenblock. Sie war beauftragt worden, auf den Anbau einer Villa, der einen Swimmingpool enthielt, ihre Interpretation von einem italienischen Garten aus dem siebzehnten Jahrhundert zu malen. Nichts besonders Abenteuerliches. Vermutlich wollten diese Kunden ihren Freunden nur erzählen, sie hätten Sage Danvers engagiert. Die Arbeit müsste ihr leichtfallen. Aber aus irgendwelchen Gründen weigerten sich die geometrisch angelegten Pfade und die Statuen, unter den Fingern der Zeichnerin Gestalt anzunehmen. Stattdessen skizzierte sie einen Garten voll üppig wuchernder Blumen vor dem Hintergrund einer zerbröckelnden Ziegelmauer. Mutters Garten, dachte sie irritiert. Angewidert betrachtete sie die Zeichnung.
Weitere Kostenlose Bücher